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Abgestufte Chancengleichheit beim Wahlrecht

Ein neues Oxymoron (In-Sich-Widerspruch) kennengelernt: die “abgestufte Chancengleichheit”. Das regelt, warum zu einer Wahl nicht alle Parteien die gleichen Möglichkeiten bekommen (z.B. bei der Aufteilung von Sendezeiten im öffentlichen Rundfunk oder Laternenmasten).

Ich bin über eine Entscheidung des Stadtrates meiner Geburtsstadt Pirna zur Plakatiergenehmigung im Rahmen der Stadtrats-, Kreistags- und Europawahl 2014 gestoßen. Dort beschloss der Stadtrat nämlich Höchstgrenzen je Partei in Abhängigkeit des letzten Wahlergebnisses:

Partei Stadtrat 2014 Kreistag 2014 Europaparlament 2014
CDU 122 108 48
DIE LINKE 87 57 24
FW 76 43 10
PB 62 20 10
SPD 61 54 31
N*D 51 35 10
Grüne 61 54 24
FDP 47 36 21
Andere 30 20 10

Das ist nun keine Erfindung von Pirna, diese Überlegung wird auch in anderen Kommunen gemacht und leitet sich aus §5 Abs. 1 Parteiengesetz ab:

Wenn ein Träger öffentlicher Gewalt den Parteien Einrichtungen zur Verfügung stellt oder andere öffentliche Leistungen gewährt, sollen alle Parteien gleichbehandelt werden. Der Umfang der Gewährung kann nach der Bedeutung der Parteien bis zu dem für die Erreichung ihres Zweckes erforderlichen Mindestmaß abgestuft werden. Die Bedeutung der Parteien bemißt sich insbesondere auch nach den Ergebnissen vorausgegangener Wahlen zu Volksvertretungen. Für eine Partei, die im Bundestag in Fraktionsstärke vertreten ist, muß der Umfang der Gewährung mindestens halb so groß wie für jede andere Partei sein.

Ich weiß nicht, was der Gesetzgeber sich vor vielen Jahrzehnten gedacht hat. Ich halte so eine Regelung für Aktionen innerhalb einer Wahlperiode grenzwertig, aber da haben die Wählerinnen und Wähler die Verteilung der politischen Gremien immerhin entschieden. Findet beispielsweise ein Volksentscheid statt, so ist es vernünftig, den im jeweiligen Gremium vertretenen Fraktionen unterschiedlich viel Platz zur Positionierung in der Abstimmungsbroschüre einzuräumen.

Eine Wahl hat aber das Ziel, genau diese Zusammensetzung neu zu bestimmen. Hier halte ich jede Regelung für demokratiefeindlich, die Parteien aufgrund vorheriger Wahlergebnisse Privilegien einräumen.

Im Jahre 1974 hat das Bundesverwaltungsgericht sich mit dieser Streitfrage im Rahmen einer Düsseldorfer Kommunalwahl auseinandersetzen müssen – und einige Leitsätze aufgestellt (BVerwG VII C 42.72):

Wenn die Gemeindebehörde eine bestimmte Zahl von Stellplätzen als geeignet für die Wahlsichtwerbung aussucht und den Parteien auf Antrag zuteilt, so ist § 5 PartG mit dem Grundsatz der abgestuften Chancengleichheit anwendbar. Die Heranziehung des Grundsatzes der abgestuften Chancengleichheit darf jedoch auch für die kleinste Partei eine wirksame Wahlpropaganda nicht ausschließen; deswegen muß grundsätzlich für jede Partei ein Sockel von fünf vom Hundert der bereitstehenden Stellplätze zur Verfügung stehen und darf die größte Partei nicht mehr als das Vier- bis Fünffache an Stellplätzen erhalten, die für die kleinste Partei bereitstehen.

Für den damaligen Rechtsstreit ging das zugunsten einer kleinen Partei aus. Der klagenden Partei wurden nur 2,4% zugebilligt bzw. das Verhältnis zur größten Partei betrug 1:18. Nachdem Urteil hätten ihr 7 bis 8% zugestanden.

(Wenn ich das Urteil lese, ist es unlogisch, die 5% durch die Sperrklausel von 5% abzuleiten. Andere Debatte.)

Was bedeutet das Urteil und der Paragraf? Es ist rechtlich zulässig für Kommunen, demokratiefeindlich zu handeln. Aber sie werden weder durch das Urteil noch durch das Gesetz dazu gezwungen! Die Abstufung der Gleichheit ist immer hinter einem “Kann” verbaut. Es ist die Entscheidung der bereits gewählten Parteien!

Und genau das überliest die Stadtverwaltung in Pirna. In ihrer Vorlage begründet sie diese Aufschlüsselung wie folgt:

Bei der Festlegung der für die Parteien zulässigen Werbeträger zu Wahlen im Stadtgebiet ist der im § 5 Parteiengesetz (PartG) verankerte Grundsatz der abgestuften Chancengleichheit zu berücksichtigen.

Und das ist falsch!

Schauen wir uns die Zahlen zur Europawahl 2014 noch einmal an. Da gab es 25 Parteien – die Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichtes sind schon mathematisch nicht umsetzbar. In Pirna wurde prognostiziert, dass aber nur 10 Parteien ihren Anspruch auf Plakatwerbung geltend machen. Bei der Verteilung der restlichen Plakate wurden aber mehrere Fehler getan. Zunächst wurden die Wahlergebnisse der CSU der CDU zugeordnet (CSU war in Pirna zur Europawahl 2009 nicht wählbar), andererseits wurden die 2009er-Wahlergebnisse von einigen Parteien wie Tierschutz oder Piraten ignoriert.

Aber es gibt auch gute Nachrichten: bei der Landratswahl 2015 wurde davon Abstand genommen – und es wurden allen Teilnehmern nun gleiche Plakatmengen gebilligt, auch bei der Bürgermeisterwahl im Januar 2017 gibt es 100 je Kandidat. Ich hoffe, dass dies so bleibt und künftig nicht abgestuft, sondern gleich behandelt wird.

Was sagt so eine Regelung auch? Die Stadt hat einfach zu viel Ordnungsamt. Denn damit so eine Regelung greifen kann, muss sie auch kontrolliert werden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es in Pirna Aufkleberkontingente gibt. Sprich: ein Plakat ohne Aufkleber ist ein illegales Plakat. Das erfordert von Parteien mehr Logistik ein, da sie neben der Plakate auch immer diese Aufkleber verteilen muss. Von Plakaten, die beschädigt werden oder im Rahmen der Kontingente im Laufe des Wahlkampfes ausgetauscht werden sollen und deren Ersatzbeschaffung von Aufklebern ganz zu schweigen (Gibt es Erfahrungen? Klappt das? Muss man dann wegen jedem zerstörten Plakat eine polizeiliche Anzeige machen, um einen neuen Aufkleber zu bekommen?)

Der Hammer sind aber die Strafen:

Was aber feststeht, ist ein Bußgeld von 500 Euro pro Plakat, wenn die Zeit für Wahlwerbung überschritten wird.

Bei aller berechtigten Kritik an den Zuplakatierung ganzer Straßenzüge in Wahlkampfzeiten (die Stadtverwaltung Pirna nennt es “Verschandelung und Verschmutzung des Stadtbildes”) darf eins nie vergessen werden: der Wahlkampf wird in der Regel von ehrenamtlich tätigen Menschen bestritten, vor allem in den kleineren Parteien. Die haben das Ziel, jeweils für sich die Stadt oder das Land zu verbessern. Es passiert schnell, dass einzelne Plakate vergessen werden, Menschen machen nun einmal Fehler. Mit solchen Strafmaßen werden vor allem kleine Parteien eingeschüchtert – und auch das ist wieder demokratiefeindlich!

Mein Fazit und meine Bitte: Hürden abbauen. Parteien gleich behandeln. Bußgelder moderat vergeben!

*Anmerkung: In den Straßen sehe ich zu Weihnachten 2016 nur die CDU. Und das in einer Größenordnung, dass ihr Kontingent deutlich ausgeschöpft wurde. Allein in der Rudolf-Renner-Straße habe ich mehr als 15 Doppelplakate der CDU gesehen.

Bisherige Kommentare (2)

Kommentar von Werner

Auch innerhalb der Legislatur lässt sich eine Ungleichbehandlung der Parteien nicht rechtfertigen. Gerade bei Volksabstimmungen geht es doch darum, Entscheidungen der starken Parteien durch das Volk zu korrigieren.

Absicht des Gesetzgebers ist ganz klar die Stärkung der starken Parteien, beschlossen durch eben diese starken Parteien. Wenn man dieser Regelung unbedingt etwas positives abgewinnen will, dann kann man sagen, es dient der politischen Stabilität. Man kann aber auch sagen, es führt zur Verkrustungen der Verhältnisse. Die Altparteien haben sich den Zugriff auf die Futtertröge der Demokratie dauerhaft gesichert. (Der Begriff “Altpartei” wurde von den Grünen geprägt, als sie selber noch keine Altpartei war.)

Kommentar von René

Danke für deine Anregung. Ich habe den Text einmal verändert. Ich bin aber nur zum Teil bei dir.

Ich hatte konkret die Abstimmungsbroschüre zum Volksentscheid im Auge, in der die Fraktionen (nicht Parteien) unterschiedlich viel Platz bekommen. Das sehe ich nach wie vor unkritisch, denn hier soll ja vor allem die Träger der Volksinitiative Platz bekommen und sich ausdrücken können. Da aus einer Partei mehrere Fraktionen und umgekehrt werden können, würde es sonst auch darüber zu Verfälschungen kommen. Das könnte auch die Laternen betreffen – denn Hauptaugenmerk ist und bleibt die Initiative und diese darf ja auch plakatieren.

Nichts desto trotz dürfte es sicherlich noch andere Beispiele finden lassen…

Was nur, und das würde ich dennoch klar abtrennen, ein ultimatives NoGo ist, wenn es auf die Wahl und Zusammensetzung der Folgeperiode geht.

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