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Fahrscheinloser Nahverkehr

Nichts ist mächtiger, als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.

Das für mich wichtigste Wahlkampfthema der Berliner Piraten 2011 war der fahrscheinlose Nahverkehr. Die Piraten forderten die Einführung eines umlagefinanzierten Nahverkehres. Nun sind drei Jahre vorbei. Zum einen bin ich einige Erfahrungen reicher, habe auch unzählige Gespräche und Auseinandersetzungen geführt. Zum anderen sind nun auch Linke und Grüne auf diesen Zug gesprungen. In Leipzig denkt der Verkehrsverbund darüber nach. Zeit, selber einige Gedanken dazu festzuschreiben.

Meine Motivation

Während viele Piraten das Thema aus sozialer Perspektive betrachten, schaue ich vor allem auf die Stadtökologie. Mein Ziel ist die Schaffung der lebenswerten Stadt.

  • Vermeidung von Lärm, Schadstoffen und Staus
  • Reduzierung von Verkehrsflächen
  • Weniger Parkplätze.

Und das gelingt nur, wenn Leute aus den Autos gelockt werden. Fahrscheinloser Nahverkehr ist ein Werkzeug. Aber nicht das alleinige.

Natürlich geht das Thema einher mit einer sozialen Komponente: Mobilität soll unabhängig vom Geldbeutel erreicht werden. Aber das ließe sich auch erreichen, wenn der Preis des Sozialtickets sich an den Bedarf für Nahverkehr im Rahmen der Sozialleistungen orientiert.

Abgrenzung

Geografisch

Die Position des fahrscheinlosen Nahverkehres ist zunächst ein Berliner Thema. Zwar ist es wünschenswert, dieses Thema gemeinsam mit Brandenburg anzugehen (oder gar auch mit Mecklenburg-Vorpommern) – aber aus Blickpunkt der Berliner Politik können wir den Brandenburgern keine Vorgaben geben. Von daher kann aus Sicht der Berliner Politik diese auch nur auf das Berliner Gebiet sich beziehen. Das führt natürlich zu unschönen Effekten an den Grenzen. Beim Verlassen von Berlin mit der S-Bahn wird also ein Fahrschein wieder nötig – noch.

Nutzerkreis

Häufig steht die Frage im Raum, ob auch Besucher und Touristen von der Bezahlung von Fahrscheinen befreit sein sollen. Meine Antwort ist ganz klar: Ja!

Denn auch die Berliner haben schließlich etwas davon, wenn Touristen sich nicht per Auto (ggf. Mietwagen) im Stadtbild fortbewegen. Ferner würde die Bewirtschaftung von Automaten und die Fahrtkartenkontrolle auch künftig aufrecht erhalten bleiben müssen, so lange es Personengruppen gibt, welche Fahrscheine kaufen müssen.

Finanzbedarf

Der jährliche Finanzbedarf, der bei Wegfall der Ticketeinnahmen, entsteht, kann mit ca. 1 Mrd. Euro beziffert werden (für S-Bahn und BVG). Das schwankt auch immer ein wenig (Mehrleistungspaket, Kürzungen bei der S-Bahn, …). Dem stehen unmittelbare Einsparungen von ca. 6% der Summe entgegen, da die Bewirtschaftung der Automaten nicht mehr benötigt wird.

Mittelbare Folgen wären:

  • In Folge der steigenden Nachfrage für den öffentlichen Personennahverkehr werden einzelne Verkehrsmittel ihre Kapazitätsgrenze erreichen. Sprich: Es müssen folglich zusätzliche Fahrzeuge verkehren. Dadurch entstehen weitere Kosten.
  • Gelegentlich kann es dazu führen, dass die Kapazität einzelner Strecken nicht weiter erhöht werden kann und zusätzliche Investitionen notwendig sind. So wird aller Voraussicht nach die U2 massive Probleme haben.
  • Wenn hoffentlich weniger Autos auf den Straßen unterwegs sind, wird der Ausbau des Straßennetzen (und folglich auch die Instandhaltung) sich reduzieren, worüber auch eingespart werden kann.
  • Wenn es keine Schwarzfahrer mehr gibt, müssen folglich auch keine inhaftiert werden. Das entlastet die Justiz.

Finanzierungsmodelle

Umlagefinanziert

Die Umlage funktioniert ähnlich wie der Rundfunkbeitrag: jeder muss zahlen. Der Unterschied ist hier nur, dass eben nicht der Haushalt die Bezugsgröße ist, sondern die Person.

Optional dazu lassen sich Ausnahmeregelungen festlegen. Denkbare wäre eine Ausnahme für Minderjährige, eben um Familien mit vielen Kindern nicht überstark zu belasten. Ebenso denkbar wäre eine Ausnahmeregelung für Transferleistungsempfänger.

Hier ist aber zu beachten, dass bei der Ermittlung der Regelsäze der Bedarf für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel berücksichtigt ist. Für einen Alleinerziehenden sind es 2014 19,90 Euro. Für Lebenspartner und Kinder gelten niedrigere Werte. Aus sozialen Aspekten ist es wichtig, dass die Umlage keinesfalls höher sein darf. Ob man letztendlich Transferleistungsempfänger befreit (woraufhin sich deren Bedarf reduziert) oder den Bedarfssatz abverlangt, ist sogesehen eine Nuance.

Die Umlage ist ein Werkzeug, was sich zunächst ausschließlich auf Menschen mit Hauptwohnung beschränkt.

Milchmädchenrechnung:

1 Mrd / 12 Monate / 3,5 Mio Einwohner = 23,80 Euro

Wenn bestimmte Menschengruppen befreit werden sollen, wird es natürlich teurer.

Umlagefinanziert plus

Um die Umlage zu reduzieren, wären andere Finanzierungsquellen nötig. Da insbesondere bisher nur natürliche Personen zahlen müssen, wäre bspw. eine Abgabe für Gewerbe nicht verkehrt.

Abgabe für Arbeitsplätze

Mit dieser Maßnahme würden Firmen beteiligt werden – und zwar in dem Rahmen, wie sie Arbeitsplätze stellen.

City Tax

Die City-Tax würde all diejenigen treffen, die in einem Beherbergunsbetrieb nächtigen. Dieses Instrument würde nicht auf Tagestouristen greifen. Um diese zu treffen, könnten auch Gebühren für die Teilnehmer eines Kongresses oder einer Messe erhoben werden – wenngleich hier Zielgruppen doppelt veranschlagt werden.

Zweitwohnungsteuer

Die Zweitwohnungsteuer würde all diejenigen betreffen, die eben eine Zweitwohnung haben. Im seltenen Ausnahmefällen würden Menschen doppelt oder mehrfach besteuert werden, wenn sie mehrere Wohnungen in Berlin haben. Ein Problem der Zweitwohnungsteuer wäre die Erhebung von verheirateten Berufspendlern (wobei hier juristisch durchaus die Frage zu klären wäre, ob bei Mehrwert eines fahrscheinlosen Nahverkehrs der Bundesverfassungsgerichtsurteil angewandt werden kann.

Mehrwertsteuer

Der Vollständigkeit halber notiert: auch die Finanzierung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer wäre grundsätzlich denkbar.

Das Problem hierbei ist allerdings, dass die Einkommensteuer eines Bundessteuer ist. Bei diesem Vorhaben müsste der fahrscheinlosen Nahverkehr bundesweit eingeführt werden. Das mag sicherlich im Interesse vieler Piraten sein – ich bin dabei zurückhaltend. Nicht, dass ich es nicht auch toll finde. Aber in dörflichen Gebieten werden wir noch wesentlich mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen – und so lange es Dörfer gibt, in denen sprichwörtlich dreimal am Tag ein Bus hineinfährt, werden wir für solche Projekte wohl wenig Begeisterung bekommen.

Zudem würde bei einer Erhöhung hälftig das Land und hälftig der Bund profitieren. Die Verteilung der Steuer müsste also neu geregelt werden. Wenn zusätzlich also auch die Kommunen (ok in Berlin ist es das Land) einen Anteil bekommen, verkompliziert es diese Steuer.

Grundsteuer

Die Grundsteuer ist zwar ebenso eine Bundessteuer, diese fließt allerdings in den kommunalen Haushalt. Zudem können die Kommunen einen Hebesatz festlegen, so dass zwar die Steuer bundesweit einheitlich geregelt ist, aber eben parametrisierbar.

Die Grundsteuer verteilt die Last entsprechend des genutzten Grundes. Mieter bekommen diese über die Nebenkosten umgelegt, so dass sie für ihren Teil eben bezahlen müssen. Wer eine große Wohnung hat, wird entsprechend höher belastet. Zudem wird diese Steuer auch von Unternehmen verlangt. Wer als Hotelgast nach Berlin kommt, hat eben seinen Anteil über die Grundsteuer des Hotels (die ja bei der Berechnung des Übernachtungspreises entsteht) mit berücksichtigt. Sprich: wir müssen uns keine weiteren Gedanken machen, wer bisher durch das Raster fallen könnte.

Und das beste: wir brauchen kein seperates Verfahren zum Einzug der Gelder.

(Losgelöst von der Debatte des fahrscheinlosen Nahverkehrs schlägt der VCD vor, zur Finanzierung des ÖPNV eine Abgabe angelehnt an die Grundsteuer zu erheben)

Berlinticket der Linken

Die Linken (oder besser gesagt dessen verkehrspolitischer Sprecher im Abgeordnetenhaus Harald Wolf) schlagen ein Berlin-Ticket vor:

  • Kosten ca. 30 Euro im Monat (Sozialticket bei ca. 60%, Schülerticket bei ca. 20%)
  • Pendler und Touristen müssen weiterhin Fahrscheine erwerben

Der entscheidende Unterschied zwischen den Ansätzen der Piraten ist, dass der Ansatz zwar solidarisch ist, aber noch nicht fahrscheinlos. Die Bürger müssen also stets einen Nachweis mit sich führen. Wenn es an den Hauptwohnsitz gekoppelt ist, würde im Zweifel auch die Personalausweis reichen. Wenn es Tickets gibt, braucht es noch das System der Fahrtkartenbewirtschaftung.

Dieses Berlinticket könnte durchaus ein politischer Kompromiss werden – eine Brückentechnologie. Lieber erst einmal dieses Berlinticket als gar kein Fortschritt bei dem Thema. Ausgehend von einem Berlinticket ist der weitere Weg auch viel einfacher, wenn die ganze Automatenwirtschaft nach wie vor betrieben werden muss und Fahrkartenkontrollen nach wie vor stattfinden müssen und dem nur noch wenige direkte Fahrscheinerlöse dem gegenüber stehen.

Bürgerticket Grüne

Das Bürgerticket der Grünen sieht folgende Parameter vor:

  • Kosten 15 Euro je Monat für alle Berliner
  • Gültigkeit 24/7 mit Ausnahme werktags 7-10 Uhr
  • Für werktags 7-10 Uhr sind Einzelfahrscheine oder Zeitkarten nötig.
  • Zeitkarten: halber Preis gegenüber heute. Bei Sozialticket: 10 Euro (jeweils zzgl. der 15 Euro Basis)
  • Fahrradmitnahme außerhalb der Morgenstunden kostenfrei möglich

Verglichen mit dem Ansatz der Linken ist der grüne Ansatz billiger, aber auch weniger wert. Dieses Socket-Modell erinnert mich an das Leipziger Semesterticket, wenn auch nicht ganz so krass. Das Leipziger Socket-Modell ging nämlich am Bedarf für Studenten vorbei (Ausschluss 5-19 Uhr). Hier sind es nur drei Stunden im morgendlichen Berufsverkehr. Im Zweifel kann dieser Vorschlag nur ein Mittel auf dem Weg zum Ziel sein. An der Uni Leipzig hat sich mittlerweile auch das Vollticket durchgesetzt.

Die dahintersteckende Idee, den Peak abflachen, kann ich natürlich verstehen.

Fahrscheinlos bei Parteien

Bei der Fraktion im Abgeordnetenhaus scheint eine starke Präferenz nach für die Umlage zu existieren. Allerdings mit einem sehr schrägen Argument: die Grundsteuer würde Wohnnebenkosten erhöhen. Eine Umlage aber auch. Mehr ist zumindest mir aus der aktuellen Debatte noch nicht bekannt. Die Fraktion hat im vergangenen Herbst eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Im Januar fand dazu – unter Ausschluss selbst parteiinterner Öffentlichkeit – ein Arbeitstreffen statt.

Bei der Arbeitsgruppe für ÖPNV („Ökosoziales Projekt Berlin”) wurde zuletzt verstärkt in Richtung Grundsteuer nachgedacht – in Anlehnung an die Positionierung des Verkehrsclubs Deutschland (VCD).

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