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Die Charts von heute - Einmal reingehört

Als ich 14 war, kannte ich die Charts fast auswendig. Lang ist es her. Damals mit Spaceman, Lemon Tree und Children. Doch je länger ich in die Hitparaden blickte, um so seltener entdeckte ich spannende Lieder in hohen Positionen. Im Gegenteil: die meiste spannende Musik fand außerhalb statt. Bei Liedern und ganzen Genren, die es auch nie ins Radio schafften, hörte ich auf Radio zu hören. Und dann schafften es nur wenige Künstler aus der Hitparade in die eigene Welt.

Also habe ich mir die TOP100 vom 10.07.2020 herangezogen – zumindest mit der kleinen Hoffnung, das eine oder andere Lied durchaus in die eine oder andere Play-Liste zu ziehen.

Ehe ich zu den einzelnen Titeln komme, einige zusammenfassende Eindrücke:

  • Rap und HipTop dominieren in der Hitparade (8 von 10 Titeln in der TOP 10). Elektronische Musik gibt es am Rande noch. Rock in seinen vielfältigen Facetten suchte ich wie nach der Nadel im Heuhaufen. Einige Liedermacher befanden sich dazwischen.
  • Wirkliche Innovation, neue Klänge oder gar neue Stile etc. vermisse ich. Möglicherweise tue ich dem Rap/HipHop unrecht, aber irgendwie waren solche Titel auch alle schon mal da gewesen. Auffallend ist nur, dass der Autotune-Effekt massiven Einzug gehalten hat. Effekte, die damals bei Gangsta’s Paradise noch fehlten.
  • Seit Cher 1998 den Autotune-Effekt (die automatische Tonhöhenkorrektur, mit der die Stimme leicht verzerrt klingt) populär gemacht hat, scheinen viele Musiker nicht mehr ohne klar zu kommen. Und oftmals werden die Effekte so stark verwendet, dass das Ergebnis nicht mehr schön klingt. Wie bei jedem dieser Effekte: in Maßen kann es reizvoll sein, aber das, was ich von Apache 207 hörte, ist wie eine Suppe, die man kräftig übersalzen hat.
  • Der Anteil deutschsprachiger Musik ist deutlich gestiegen: in der TOP10 sind 8 Titel deutschsprachig (Zum Vergleich: in der Woche, wo Space Man auf Platz 1 war, gab es nur 2 in den TOP10). Die deutschsprachigen Titel stammen aber auch fast nur aus dem Bereich Rap. Mark Forster mag hier eine Ausnahme zu sein.
  • Während viele Titel früher radiotauglich auf 3:30 Minuten geschnitten wurden, gab es viele Titel unter 3 Minuten.

Fazit: Ich betrachte die Mission als geglückt. Ich habe nicht viel erwartet, wenngleich mich die stilistische Einseitigkeit überraschte. Dennoch fand ich durchaus einige Künstler, die ich mir näher anschauen werde. Konkret benennen würde ich hier Mark Forster, The Weeknd, Robin Schulz, Nea, Dua Lipa und Lewis Capaldi.

Zu den Titeln:

01 Bläulich (Apache 207)

Hilfe, das soll Platz 1 sein. Nach zwei Minuten muss ich abbrechen. Langsamer und langweiliger Rap, der Autotune-Effekt tut mir in den Ohren weh. Ich verstehe kaum, was er labert. Ich ziehe mir den Liedtext heran.

Tret’ dezent das Gaspedal und sie freut sich
Klatsch’ 21 Zoll an meinen Benz dran

Ja, ich gehöre nicht zur Zielgruppe. Bei 21 Zoll denke ich jetzt nicht an Reifengrößen. Aber hey, diese Auto-Glorifizierung ist im Rap schon sowas von 90er. Oder schlimmer noch: diese Auto-Glorifizierung, um Eindruck bei anderen zu schinden. Man könnte auch sagen: Kindergarten.

Im Video läuft ein Typ mit Gehhilfe und Windeln herum. Das mag wiederum ein Novum sein.

02 Savage Love (Jawsh 685)

Ganz andere Klänge. Es scheint wohl der Sommerhit des Jahres zu sein? Also eingängige Melodie mit Elementen des Reggae. Kann man mal anhören. Ich habe nur die latente Sorge, dass Radiohörenden der Titel schnell zu den Ohren wieder rauskommt. Nicht ganz so extrem, aber auch hier ist der Autotune-Effekt deutlich zu hören.

03 Emotions (Ufo361)

Und wieder Rap/Hiphop, es hat Indizien von deutscher Sprache. Mit einem fragwürdigen, abgestaubten Frauenbild:

Baby, nimm einen Schluck
Dom P für die Emotions
Ich erhöhe deine Dosis
So viel Schmuck
Mehr Drip als ein Ocean
Meine Drinks sind frozen

Man möge sich fragen, in welcher Realität die Künstler leben. Und wie doof sie Frauen halten, die darauf wohl abfahren sollen. Es wirkt jedenfalls nicht nach einem Anti-Lied.

Die Instrumentierung ist zum Einschlafen, der Autotune-Effekt rettet hier nichts nichts. Im Gegenteil.

04 Rockstar (DaBaby)

Und wieder Rap/Hiphop, dieses Mal Englisch. Im Video sind Waffen-Narre zu sehen, unter einer Pistole ist nicht. Die Szenen sind die reinste Kriegsverherrlichung (also wenn Waffen sichtbar auf Menschen gerichtet und angewendet werden). Auch musikalisch holt es mich nicht vom Hocker. Kannich noch mal Gangstas Paradise hören?.

Let’s go
Brand new Lamborghini, fuck a cop car
With the pistol on my hip like I’m a cop (yeah, yeah, yeah)

Achja, neben Waffen geht es hier auch wieder um Autos.

05 Nacht zu kurz (Luciano)

Und wieder Rap/Hiphop, deutschsprachig. Und es wird nicht besser. Auch textlich…

Koodah gib Gas, denn die Nacht zu kurz (boom-pah)
Thot, Bellydance, full und ihr Rock zu kurz (krr, krr)
Seh’ Sheytan, hab’ zu viel intus
Mentalität, komm mir nicht an, boh-boh

06 Airwaves (Pashanim)

Und wieder Rap/Hiphop, deutschsprachig. Mit geraden, tanzbaren Rhythmen. Die Aneinanderreihung von Markennamen ist im Text auffällig, auch im Video. Hörbar – und bei weitem nicht so übel, wie die Platz 1, 3, 4 und 5. Eingängig, wenn auch nicht gerade meins.

07 XXL (Miksu / Macloud)

Und wieder Rap/Hiphop, deutschsprachig. Der Intro des Videos wirkt mitunter spannend. Mit Einsetzen des Sprachgesangs wird es langweilig. Ferraris werden gezeigt (Warum muss man in Musikvideos die Automarken so großflächig hervorheben? Geht es um Status?). Die Sprache ist wieder autotune-verzerrt. Allgemein langweilig.

08 Unbekannt (Bozza & Samra)

Und wieder Rap/Hiphop, deutschsprachig. Gähn. Nächster Titel.

09 Übermorgen (Mark Forster)

Oh. Welch Abwechslung. Zwar deutschsprachig, aber kein Rap. Im Gegenteil: das klingt, als hat hier jemand Talent.

Leicht düstere, elektronische eröffnen das Stück, ehe die markante Textzeile “Heute, Morgen, Übermorgen” in das Lied führt. Der Refrain driftet leicht in den Schlager ab. Auf jeden Fall bleibt es in meinen Ohren – und das Interesse auf Mehr ist geweckt. Das erste Mal in dieser Hitparade. Das Arrangement ist perfekt.

Ich höre mich etwas rein: Wir sind groß, 194 Länder, Sowieso. Ich werde mir wohl im Nachgang noch einige Titel anhören.

10 Boot (Apache 207)

Und noch mal dieser Apache mit seinem Rap. Instrumentell ein wenig eingängiger, aber der Autotune-Effekt auf seiner Stimme nimmt auch hier jeden Reiz weg. Oh, ja – der Benz ist auch im Video so sehen. Ob das nun 21-Zoll-Reihen sind? Egal. Nächster Titel.

12 Blinding Lights (The Weeknd)

Ist Michael Jackson wieder aufgestanden? Und das meine ich nicht negativ: der Instrumentierung ist gut und hat 80er-Jahre-Einfluss mit geradem Rhythmus. Die Stimme passt. Nun nur Platz 12, aber der schien zuvor einige Wochen die 1 verteidigt zu haben.

Das Video ist etwas gruselig, aber soll wohl auch ein wenig die Musik untermauern. “In your Eyes”, die nächste Single ist etwas getragener, ergänzt aber hervorragend diesen Song.

14 Alane (Robin Schulz)

Da wurde ein 90er-Jahre-Hit wieder aufgewärmt. Zugegeben: ich fand das Original damals schon nervig (vermutlich auch, weil es zu häufig überall gespielt wurde). Ob die verzerrten Stimmen nun einen Mehrwert gaben? Ich glaube nicht. Aber hey, noch mal einen Nicht-Rap-Titel!

Unabhängig davon: Ich finde einige andere Titel des Künstlers hörenswerter (z.B. In Your Eyes, Sun goes Down)

25 Breaking Me (Topic / A7S)

Ich verlasse die TOP20: Dance. An sich gut arrangiert, kann bei häufigen Anhören aber nervig werden.

Der Interpret weckt auch mein Interesse nach mehr – doch finde ich da kaum etwas.

27 Some Say (Nea)

Moment, den Refrain kenne ich noch. Hier wurde der Refrain eines nervigen Elektro-Liedes (Blue) aus den 90ern mal so komplett aus dem Kontext gerissen und ein eigenes Lied, ruhiges eingebaut, dass es sogar richtig gut wurde. Das Ergebnis erinnert an die Flunk-Version von Blue Monday. Sehr relaxed. Der Felix Jaehn Remix überzeugt mich dagegen nicht.

Auch andere Titel sind ähnlich solide: Dedicated.

Anmerkung: Diese Nea stammt aus Schweden – und sollte nicht verwechselt werden mit der deutschsprachigen Schlagersängerin. Die Stimme erinnert an Natalie Imbruglia.

37 Living In A Ghost Town (The Rolling Stones)

Zeitlos. Auch wenn der Titel schon im letzten Jahr geschrieben wurde, ließ er sich mit Umtexten auf Corona adaptieren. Das Video mit leeren U-Bahn-Steigen in London ist grandios. Am besten ist die Passage bei 2:37.

48 Cooler Than Me (Lucky Luke)

Düsterer Techno mit entspannter Stimme. Gefällt mir. Wirklich. Im Video sieht man wohl Plattenbaugebiete aus Litauen.

Ich hörte einige andere Titel des Projektes. Das meiste waren Coverversionen, die zu billig waren. Wonderwall mit Beat – nicht wirklich.

55 Treppenhaus (Lea)

Deutschsprachige Liedermacherin mit emotionalen Texten zu kaputten Beziehungen:

Hast mich aus deinem Leben geschossen
Und wo’s am meisten wehtut getroffen
Und ich Idiot will doch immer wieder hoffen
Dann küss’ ich dich im Treppenhaus

Sehr eingängig. An sich gut. Aber irgendwie muss ich dafür in Stimmung sein. Sicherlich vergleichbar mit einigen Titeln von Silbermond.

59 Take My Hand (Jerome)

Klassische Dance/Trance-Musik, wie sie 1994/1995 von Mark Oh, Scooter oder Charly Lownoise & Mental Theo hätte kommen können. Hochgepitchte Schlumpf-Stimmen zu Happy Hardcore. Eine sehr eingängige Melodie über wenige Zeilen. Und diese wird permanent wiederholt. Bis zum Ende. Die Texte selbst sind sehr generisch:

Take my hand and never let it go
This could be the start of something new

Ein Sprung in etwas neues – das kann sich jeder auf die eigene Situation adaptieren.

Ich höre mir weitere Lieder von Jerome (Light). Sagte ich schon, dass es wie vor 25 Jahren auch ein relativ starres Schema gibt?

Ähnlich wie damals: die Übergänge holpern enorm. Die Qualität der Videos ist ähnlich. Bei Take my Hand sieht man Urlaubsvideos, in Light tanzt eine Frau im Badeanzug. Und die Übergänge der Passagen holpern enorm.

62 Break My Heart (Dua Lipa)

Dance-Musik, die zeitlos ist. Vergleichbar mit Moloko.

Die Musikerin werde ich wohl auch mal etwas näher anschauen. “Physical” gefällt mir mit dem düsteren Touch noch besser.

91 Fingertips (Tom Gregory)

Klassischer Pop, der Refrain ist hymnenartig. Kann ich mir gut als Abschluss bei einem Stadion-Konzert vorstellen. Man darf es nur nicht zu häufig hören,

Von dem Sänger gibt es mit Never Let me down einen weiteren Titel in der Hitparade.

96 Someone You Loved (Lewis Capaldi)

Hammer. Eine super eingängige Schnulze. Komplett ohne Schlagzeug kommt die gesamte Dynamik durch Gesang und Klavier.

Now the day bleeds
Into nightfall
And you’re not here
To get me through it all

Auch empfehlenswert: Hold me while you wait.

Genug

So, genug für diese Hitparade. Die Idee sollte ich vielleicht in einem Jahr mal wiederholen.

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