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Homepage von René Pönitz

Kurz vor Erfindung des Stadtplanes

Ich habe das Gefühl, Hamburg steht kurz vor einer wichtigen Erfindung. Was könnte es wohl sein?

Hier in der Nähe wird eine Straße saniert. Dazu sind Sperrungen und Umleitungen nötig. Umliegende Gebiete wurden nun informiert, im Briefkasten fanden wir folgenden Zettel:

Zwei DIN-A4-Seiten voll mit Fließtext, die messerscharf genau erklären, wann wie wo an welchem Tag eine Straße oder Kreuzung nicht passierbar ist. Und das in einem Gebiet, wo die Straßennamen nicht den Hauptstraßen folgen und die Hauptstraßen alle paar Meter den Namen ändern. Wer nicht die genauen Hausnummern der Straßen im Blick hat, sollte also die Straßen mal bei Gelegenheit ablaufen.

Wenige Tage später entdecke ich an einer Bushaltestelle folgenden Zettel:

Die Verkehrsbetriebe untermauern die Umleitungen immerhin mit Bildern. Wenngleich der Text maximal unverständlich ist. Was meinen sie mit “Zurück”? Und wo finde ich eine verlegte Haltestelle? Und welchen Zweifel hegen die Verkehrsbetriebe, wenn sie “voraussichtlich” vier Tage schreiben?

Man könnte also sagen: Wir stehen in Hamburg kurz vor der bahnbrechenden Erfindung: der Stadtplan.

Im Studium bläute man mir schon im ersten Semester ein, dass ein Bild mehr sagt, als Tausend Worte. Bei einem Stadtplanausschnitt lassen sich Pfeile einzeichnen, an denen Zeiträume und Besonderheiten beschrieben sind. Und vor allem habe ich auf einem Blick, wann genau mich welcher Teil dann betrifft.

Diese Umbaumaßnahme scheint aber auch andere typische Hamburger Besonderheiten zu haben:

  • Der Landesbetrieb für Straßen fühlt sich nicht zuständig, die Busumleitungen abzuklären und mit anzukündigen. “Es wird rechtzeitig auf Änderungen im Busbetrieb hingewiesen.”
  • Ergeben sich beim Lesen der zwei Seiten Fließtext Fragen, so gibt es vorderseitig eine E-Mail-Adresse. Eine Antwort scheint es da nicht zu geben. Wozu auch?
  • Die Fahrbahndecken entsprechen nicht mehr dem heutigen Verkehrsaufkommen – die Radwege entsprechen dem auch nicht. Da passiert aber nichts.
  • Durch Straßensperrungen ist ein Abschnitt entstanden, der in Gänze zur Sackgasse wurde – ohne Warnhinweis.

Wer immer Berlin als Failed State bezeichnen mag: Hamburg steht dem in Nichts nach!

Die Standleitung zu Porsche

Da hat also Christian Lindner in den Koalitionsverhandlungen mit dem Porsche-Chef direkt geschnackt und das Mysterium eFuels in den Koalitionsvertrag schreiben lassen. Nun regen sich alle über die FDP auf. Ich nicht. Ich rege mich eher über die Leute auf, die die FDP wählten. Oder das vielleicht künftig wieder tun.

Wir erinnern uns vor ein paar Jahren, als die Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen in den ermäßigten Mehrwertsteuer-Tarif wechselte. In Fachkreisen auch die Mövenpick-Regelung genannt. Sorry: dieses Geklüngel steckt in der DNA dieser Partei. Das ist hinreichend bekannt. Wenn 12% die FDP wählen, dann wollen diese Menschen das Geklüngel – oder nehmen es wenigstens tolerierend in Kauf. Wer ein Transparenzgesetz und ein Lobbyregister lieber will, der würde die Stimme besser bei der Piratenpartei setzen.

Das wirklich spannende aber ist: wie ist es dazu gekommen? Wieso hat der Porsche-Chef ohne Not mehr köpfe als nötig eingeweiht? Wieso hat er das Risiko des Publikwerdens erhöht? In seiner Gehaltsklasse sind selten Amateure unterwegs. Gab es etwa Meinungsverschiedenheiten mit Christian Lindner oder anderen aus der FDP? Oder wollten sie gar weitere Forderungen?

Die wirklich spannende Frage ist: Welche Agenda verfolgte Porsche?

Nichtwählen

Am Sonntag, den 15.05., wählten die Menschen in Nordrhein-Westfalen einen neuen Landtag. Aber es wählten nicht alle mit: lediglich 55,54% der wahlberechtigten Menschen haben tatsächlich ihre Stimmen abgeben. Das ist der Tiefstwert in der Geschichte des Landes.

Sofort gibt es fragwürdige Meldungen: die niedrige Wahlbeteiligung hätte der SPD geschadet. Marius Sixtus rechnet aus, wie mit einer höheren Wahlbeteiligung weniger Parteien im Parlament vertreten wären:

55 Prozent Wahlbeteiligung in #NRW. Shame in you! Mit fünf Prozent mehr hätte man die beiden FD-Parteien aus dem Landtag werfen und Rot-Grün klarmachen können.

Und laut einer Bertelsmann-Studie soll ein Großteil der Aufassung sein, die Parteien und Politiker würden doch machen, was sie wollen. Immerhin unterscheidet der Artikel vier Arten von Nichtwählern:

  • aus Krankheits- oder anderen Hinderungsgründen

  • aus bildungsfernen und einkommensschwachen Schichten, die sich bisweilen auch gar kein politisches Urteilsvermögen zutrauen.
  • die je nach Wahl entscheiden, ob sie ihnen wichtig genug ist, um teilzunehmen.
  • politisch interessiert, wählt aber aus Protest nicht.

Wir haben keine Wahlpflicht, aber aus meiner Sicht gibt es kein wirkliches Nichtwählen. Jede Person, die bei einer Wahl keinen gültigen Stimmzettel ausfüllt, delegiert automatisch das eigene Stimmgewicht an die jeweilige Mehrheit. Das ist in einer Demokratie ein legitimes Mittel – und wer genau das tun wollte, hat zumindest diese Option richtig eingesetzt. Das wären vor allem die oben zitierten Gruppen No. 2 und 3. Mir wäre dieses blinde Vertrauen jedoch zu gefährlich, insbesondere wenn demokratiefeindlich gestimmte Parteien zu starken Zulauf erfahren könnten.

Kommen wir aber zur vierten Gruppe: wer aus Protest, Frust oder Politikverdrossenheit der Wahl fern bleibt, schneidet sich im Grunde ins eigene Fleisch und liefert selbst den Nährboden für künftige Unzufriedenheit. Denn damit werden die offensichtlich starken Parteien weiter bestätigt. Und wenn in den letzten Wahlen die Stimmen für CDU/CSU, SPD und FDP jeweils eine Mehrheit erfährt – warum soll sich dann in diesem Land etwas zum Positiven verändern? (Und nein, braune Parteien verändern auch nichts zum Positiven)

Wenn diese Politikverdrossenen eine Hoffnungswahl machen – und ein Kreuz bei einer beliebigen (nichtbraunen) sonstigen Partei macht, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Stimme durch die Demokratieverstümmelung. (So nannten die Grünen einst die Sperrklausel) zwar nicht zu Mandaten führt. Aber es hat mehrere positive Nebeneffekte:

  • die Balken für die Sonstigen Parteien wächst. Das allein ist eine Botschaft. Die Regierungsbildende Koalition vertritt keine Mehrheit.
  • die etablierten Parteien haben Angst – nämlich, dass eine dieser Parteien den Einzug schaffen könnte. Was waren damals alle aus dem Häuschen, als die Piratenpartei ins Berliner Abgeordnetenhaus einzog? So ein Quatsch wie die Chatkontrolle wäre im Jahre 2012 undenkbar gewesen.
  • bei der Parteienfinanzierung auch die kleineren Parteien etwas bekommen (ab 1% auf Landesebene, 0,5% Bundesebene)
  • und wenn die Sonstigen so stark ansteigen, ist es auch ein gutes Argument, dass diese Sperrklausel zu Fall gebracht wird.

In soweit kann ich nur ermutigen, zur Wahl zu gehen.

Tramophobie

Es gibt Zitate, die manchmal sehr ungünstig altern. Und es gibt Zitate, die bereits mit ihrem Aussprechen schon veraltet sind. Zu letzterem gehört eine Aussage von Hamburgs Bürgermeister Tschentscher, die er heute hinter eine Bezahlschranke im Hamburger Abendblatt von sich gibt:

Auf Nachfrage wies Bürgermeister Tschentscher erneut und energisch die Idee zurück, eine Stadtbahn könne den Verkehr in Hamburg entlasten. Solche Bahnen seien “altmodische Stahlungetüme”, die ganze Verkehrsräume zerschnitten, so der Bürgermeister. Sie seien nicht mehr zeitgemäß, keine Metropolen baue solche Bahnen in ihr Zentrum. In Hamburg habe aufgrund der “empörten Proteste” kein Kilometer einer neuen Stadtbahn gebaut werden können.

Die Angst der Hamburger SPD vor Straßenbahnen nenne ich liebevoll Tramophomie. Als die SPD im Jahre 2011 mit dem Cum-Ex-Spezialist Olaf Scholz Bürgermeister wurde, wurde als erste Amtshandlung die Straßenbahnpläne eingestellt. Damals wollte er den Spurbus einführen, eine wirklich gescheiterte Verkehrsidee. Seitdem hat sich Hamburg ein trauriges Alleinstellungsmerkmal erarbeitet: es ist die einzige Mio-Stadt der Europäischen Union ohne Straßenbahn… geworden! Alle anderen Metropolen haben diese wieder eingeführt. Oder gar erweitert.

Es gibt Metropolen, die diese nicht im Zentrum haben, richtig. Zum Beispiel Paris oder London. Das hängt aber nicht mit “altmodischen Stahlungetümen” zusammen, sondern weil die U-Bahn-Netze im Zentrum so dicht und engmaschig sind, dass eine Tram nur bedingt Mehrwert liefert. Andere Metropolen wie Wien, Prag oder Barcelona lassen diese sehr wohl im Zentrum fahren.

Wie die SPD und das Abendblatt mit dieser Aussage zum Titel kommt, es sei eine klare Absage an die autozentrierte Politik sei, ist wirklich unbegreiflich.

Lastenradförderung

Eine wunderbare Alibi-Maßnahme zur Verkehrswende ist die Lastenradförderung: Wer ein Lastenfahrrad kauft, bekommt (je nach Zeitpunkt, Ort und Förderprogramm) einen Zuschuss. Das Thema taucht immer wieder mal regional auf, derzeit in Bremen. Hier gibt es einen Zuschuss von bis zu 1.250 €. Am 20. April ging es los, binnen weniger Stunden sei der Top wohl schon erschöpft

Die Nachfrage nach Zuschüssen für Lastenräder und Fahrradanhänger war so hoch, dass in den ersten 15 Minuten die Internetseite zusammengebrochen war. Innerhalb der ersten zwei Stunden sind nach Angaben der zuständigen Behörde 1.300 Anträge eingegangen. Zu Beginn sollen es zehn Anfragen pro Sekunde gewesen sein. [..] Insgesamt investiert Bremen eine halbe Millionen Euro für das Projekt. Die Behörde geht davon aus, dass sie damit rund 600 bis 800 Anhänger und Lastenräder fördern kann.

Solche Maßnahmen gab es auch in anderen Städten. Sie sind sehr einfach: mit einer überschaubaren Menge Geld kann man so tun, als würde man die Verkehrswende voranbringen. Und das schöne ist: es tut ja keinem weh.

Denn überlicherweise tun Maßnahmen der Verkehrswende weh: entweder durch die Umwandlung von Fahrspuren, durch den Wegfall von PKW-Stellplätzen oder die Veränderung von Ampelschaltungen. Wenn ich Menschen raus aus den Autos locken will, braucht es vor allem eines: eine gute und komfortable Fahrradinfrastruktur.

Wen erreiche ich denn mit dem Zuschuss zum Fahrradkauf? Überwiegend diejenigen Menschen, die ohnehin schon Fahrrad fahren. Vor allem auch die Menschen, die sich ein Lastenfahrrad grundsätzlich leisten können – und das betrifft nicht nur den restlichen Kaufpreis, sondern auch den dafür benötigten Platz (vor allem wenn man das Rad ungern im Straßenraum zurücklassen möchte). Und die auch die Möglichkeit haben, pünktlich um 12 Uhr so einen Antrag stellen zu können (weil sie bspw. nicht im Schichtdienst gerade arbeiten müssen).

Es ist vor allem ein Geschenk für Besserverdienende.

Glaubt wirklich jemand, dass man mit der Aktion auch nur einen Autofahrer davon bekehrt? Und vor allem, dass diese Lastenfahrräder dann rege in Benutzung sein werden?

Wesentlich zielführender als so eine Personenförderung wäre es, wenn die Stadt diese Lastenfahrräder selbst anschafft und sie den Bewohnern der Stadt zur Verfügung stellt. Entweder direkt oder bspw. über Stadtteilvereine. Dann können sie auch alle nutzen, vor allem werden die Lastenräder dann intensiver genutzt.

(Ich halte auch Förderungen zum Kauf von PKWs für falsch. Egal, mit welchem Antrieb.)

Mit Umweltverschmutzung die Umwelt retten?

Anfang Februar berichtete ich über die Forderung nach einem Essen-Retten-Gesetz der Initiative Letzte Generation. Damals waren sie vor allem mit Sitzblockaden an Autobahnauffahrten aufgefallen.

Das machen sie immer noch – und haben eindeutig den Bogen überspannt. Ich zitiere einen Tweet der Initiative:

Unser höchstes Ziel ist der Schutz des Lebens. Beim Verschütten von Öl beachten wir stets, dass der Verkehr steht und keine Gefahr entsteht. Leider gelang es uns heute nicht, eine Radfahrerin rechtzeitig auf das Öl hinzuweisen und sie stürzte. Das tut uns leid.

In einem anderen Beitrag ist zu sehen, wie ein Aktivist Öl auf die Fahrbahn verteilt:

Wie dumm muss ein Mensch sein, absichtlich Öl auf die Fahrbahn zu kippen? Sorry, dafür habe ich keine anderen Worte mehr.

Super Mario deckt (Bekanntes nochmal) auf

Verwandtschaft, die noch am linearen Unterhaltsprogramm (sprich: TV) festhält, schwärmt von Mario Barth. Also nicht das normale Blödelprogramm, sondern das Format “Mario Barth deckt auf”, in dem offensichtlich auf Steuerverschwendung hingewiesen wird.

Ich habe es getan! Ich habe eine ganze Sendung mir angeschaut. Die vom 06.04.. Ja, es fiel mir schwer, durchzuhalten! Wirklich.

Die Gulli-Stimmen aus dem Saarland

Wenn das finale Wahlergebnis dem vorläufigen entspricht, so fehlen den Grünen exakt 23 Stimmen für den Einzug in saarländischen Landtag. Damit bleiben 22,3% der Stimmen bei der Besetzung des Landtags unberücksichtigt. Ein trauriger Rekordwert dieser sogenannten Sperrklausel.

Grüne Demokratieverstümmelung

Die Ironie des Schicksals der Grünen: im alten Grundkonsens der Grünen von 1993 hieß es noch:

In den Parlamenten selbst wird Demokratie in der Regel durch Sperrklauseln, das Übergewicht der Exekutive, den Fraktionszwang, Abhängigkeiten von Spendengeldern u.a. nur unbefriedigend und verstümmelt praktiziert.

Dann haben die Grünen in Hamburg für die Bezirke die 3%-Sperrklausel in die Verfassung geschrieben – es folgten die üblichen Begründungen:

Die Bezirksversammlungen sollen gesellschaftliche Vielfalt widerspiegeln. Diese Vielfalt braucht aus unserer Sicht aber auch gesellschaftliche Relevanz. [..] Ein Wahlrecht ohne Sperrklausel kann außerdem die Arbeitsfähigkeit der Bezirksversammlung schwächen. Fraktionslose Abgeordnete führen dazu, dass es mindestens in den Ausschüssen andere Mehrheiten gibt, als in der Bezirksversammlung. [..] Als eine*r von 51 bzw. 57 Abgeordneten sind sie maximal in der Lage, dem eigenen Anliegen ein Sprachrohr zu verschaffen, aber nur um den Preis einer fünfjährigen Bindung von Arbeitskraft für die Mitwirkung an allen Angelegenheiten des Bezirks.

Es sei angemerkt, dass fraktionslose Abgeordnete nicht zwingend ein Stimmrecht in den Ausschüssen brauchen. Gibt es in den Berliner Bezirken auch nicht.

In NRW haben die Grünen eine 2,5%-Sperrklausel für Gemeinden und Kreise mit beschlossen, die aber verfassungswidrig ist.

Werden Grüne darauf angesprochen, dann wird die Beschlusslage zur Sperrklausel als veraltet dargestellt – wie hier bei Abgeordnetenwatch mit Katharina Fegebank

Wir Grüne befinden uns gerade im Entstehungsprozess für ein neues Grundsatzprogramm. Insofern sehe ich den von Ihnen aufgemachten Widerspruch nicht. Ganz deutlich: eine Sperrklausel bedeutet für uns keine „verstümmelte Demokratiepraxis“, sondern bringt Stabilität in mittlerweile sehr ausdifferenzierte Parlamente.

Deutlicher kann eine Partei nicht ausdrücken, dass sich kein Mensch auf das Programm verlassen kann. Und hier ist es nicht nur das Wahlprogramm, was in der Regel Themenschwerpunkte für eine konkrete Wahl darstellt, sondern der Grundkonsens. Also ein Dokument von Satzungsrang, in dem die grundsätzlichen Überzeugungen einer Partei niedergeschrieben sind. (Natürlich dürfen sich diese ändern – aber dann sollte man diese erst ändern und dann agieren.).

In soweit ist es durchaus legitim, Schadenfreude gegenüber den Grünen zu äußern – auch wenn man selbst kein Freund dieser Demokratieverstümmelung ist.

Saarland ohne Sperrklausel

Wie würde der Saarländische Landtag nun ohne Sperrklausel aussehen? Ich habe es ausgerechnet: im Landtag wären 8 Parteien vertreten.

Partei Stimmen Sitze mit Sperrklausel Sitze ohne Sperrklausel
CDU 129156 19 16
SPD 196799 29 25
Linke 11689 1
Braune 25718 3 3
Grüne 22598 2
FDP 21618 2
FreieWähler 7636 1
Tierschutz 10391 1

(Mehr Details dazu. Es sei angemerkt, dass das Saarland nach D’Hondt verteilt. Diese Rechnung ist falsch.)

Die SPD hätte mit 43,5% der Stimmen keine absolute Mehrheit mehr, sondern wäre auf einen Koalitionspartner angewiesen. Die Grünen verdanken der Demokratieverstümmelung somit nicht nur das Fernbleiben aus dem Landtag, sondern sehr wahrscheinlich auch aus der Regierung.

Unberücksichtigt bleibt allerdings der Punkt, dass durch diese Sperrklausel Menschen bereits ihr Abstimmverhalten geändert haben. Wenn Menschen ihre Stimme frei abgeben (und sich nicht einem faktischen Zwang wegen der Sperrklausel unterwerfen), könnten es durchaus weitere Stimmen geben bzw. kleinere Parteien weitere Sitze erhalten. Mitunter wird dafür vor den Wahlen geworben, Guido Westerwelle prägte den Begriff der Gulli-Stimmen:

Im Saarland argumentierte die “Linke mit Sperrklausel:“https://twitter.com/Linke__Burb_Alt/status/1507271076828659726

#Kleinstparteien wie Piraten, DIE PARTEI + bunt.saar gefährden die einzig konsequent soziale Opposition im #saarländisch|en #Landtag. Stimmen für diese Parteien gehen definitiv verloren (5%-Hürde)

Genützt hat es der Linken bekanntlich ebenso nicht.

Arbeitsfähigkeit

Häufigstes Argument am Festhalten dieser Regelung ist die Arbeitsfähigkeit des Parlaments. Wenn 8 Parteien in einen Landtag einziehen, entstehen nicht automatisch 8 Fraktionen. Das Saarland hat gerade die Mindestfraktionsstärke von 2 auf 3 erhöht, wodurch es bei den selben 3 Fraktionen geblieben wäre. Vielleicht wären es auch 5, wenn Grüne und Tierschutz sowie FDP und Freie Wähler sich zusammengeschlossen hätten.

Aber nun ernsthaft: Gerät dabei die Arbeitsfähigkeit eines Parlaments außer Gefahr? Nein! Ein Parlament lebt davon, dass verschiedene Meinungen aufeinandertreffen. Und ein einzelner Abgeordneter kann durchaus in einer Debatte einen anderen Impuls werfen. Oder andere unangenehme Fragen stellen. Davon lebt geradezu die Demokratie.

Und selbst wenn das ganze ausufern sollte: Parlamente geben sich Geschäftsordnungen, in denen Rederechte, Redezeiten und Antragsrechte geregelt werden können.

Weimarer Verhältnisse

Ich habe 2015 die Weimarer Wahlergebnisse hergezogen und mit Sperrklauseln durchgerechnet, siehe Beitrag – und halte das für ein vorgeschobenen Grund. Weimar ging nicht an 40 bis 80 Sitzen von Kleinparteien zu Grunde, sondern an den 400 Sitzen der Großparteien.

Nicht minder spannend: Die Erklärung von Anne, die ebenso darstellt, warum diese Analogie zu Weimar nicht trägt.

Verfassungsgerichte

Die Verfassungsgerichte sehen die Sperrklausel nicht als naturgegeben an. Ich zitiere den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes vom 29.09.2011:

Die Sperrklausel des § 38 Abs. 1 LWG ist verfassungsrechtlich noch gerechtfertigt. Den Gesetzgeber trifft jedoch die verfassungsrechtliche Pflicht, ihre Notwendigkeit zur Erreichung der von ihm verfolgten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Ziele – der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments, der Bildung einer stabilen Regierung und der Funktion politischer Wahlen als eines Integrationsvorgangs – unter Berücksichtigung zwischenzeitlicher gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen zu prüfen.

Und genau das dürfte das Wahlergebnis nun komplett in Frage stellen. Hoffentlich.

Alternativen

Schon vor 5 Jahren zeigte ich Alternativen auf, wie mit moderateren Lösungen auch Kompromisse möglich sind, z.B. die Sperrklausel als maximal nicht im Parlament vertretene Stimmen.

Fazit

Diese sogenannte Demokratieverstümmelung gehört abgeschafft.

BGE und Gewerkschaft

Ich habe vor einiger Zeit schon meine Gedanken zum Bedingungslosen Grundeinkommen nieder geschrieben. Es sprechen so viele Punkte für diese Idee, so dass es von konservativen, liberalen, linken und progressiven Strömungen gleichermaßen aufgegriffen werden müsste. Aber vor allem aus dem Linken Lager kommen Beißreflexe, die ich nicht nachvollziehen kann.

Einen großen Verlierer wird es allerdings geben: die Gewerkschaften. Zumindest dann, wenn sie nicht in der Lage sind, sich auch in einer BGE-Welt neu zu erfinden. Wenn mit einem BGE die Arbeit nicht mehr für die Erwirtschaftung des Existenzminimums notwendig ist, sondern nur noch ein Hinzuverdienst ist, haben Arbeitnehmer per se eine bessere Stellung gegenüber Arbeitgebern – und können auf Augenhöhe reden.

Ausgangspunkt dieses Beitrages ist das Statement der Linken Arbeitsgemeinschaft Betrieb&Gewerkschaft Grundeinkommen: Bedingungslos gerecht?. Sie beziehen sich hier zunächst auf einen Artikel der Zeitung Welt.

Nach einigen Sätzen zur Euphorie stellen sie die Gerechtigkeit in Frage:

Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle ist nicht gerecht. Die große Ungerechtigkeit des BGE liegt in seiner Bedingungslosigkeit. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Familien Albrecht die gleiche Unterstützung erhalten soll, wie die vielen Kassier*innen in den ALDI-Filialen.

(Die Kassier*innen ist nicht von mir!)

Ja, auch die Familien Albrecht, die absolut auf keinerlei staatliche Stütze angewiesen sind, würden eben auch ein solches Bedingungslose Grundeinkommen erhalten. Es findet eben keinerlei Prüfung der Bedürftigkeit statt.

Ist das schlimm? Nur wenn die Linken wirklich keinerlei Ideen und Vorstellungen haben, wie die BGE-Ausgaben auch zu finanzieren sind. Die Schatulle des Staates ist bekanntlich endlich.

Nun wird die Bedingungslosigkeit damit begründet, dass dadurch die Repressionen einer Bedürftigkeitsprüfung umgangen wird und der Familie Albrecht das BGE mit der Einkommensteuer wieder abgezogen wird. Aber erstens ist die Forderung nach der Abschaffung des Repressionssystems ohnehin Konsens in der Linken – dafür braucht es kein BGE – und zweitens ist es auch widersprüchlich erst ein Ende der Überprüfung der Einkommensverhältnisse zu fordern und dann über die Einkommensteuer einer solchen doch zuzustimmen.

Ja, man kann ohne BGE auch das Repressionssystem (also der faktische Arbeitssuchzwang mit Sanktionen) abschaffen. Aber das ist kein Argument gegen BGE. Und dann wird das BGE ja nicht einfach wieder beim Einkommen abgezogen – das wäre dann in der Tat Quatsch. Viel mehr ändern sich Dinge wie der (Spitzen-)Steuersatz. Und dazu ist auch die Linke aufgefordert, BGE-Modelle hervorzuheben, bei denen die Familien Albrecht – trotz Auszahlung eines BGE – unterm Strich weniger Geld haben wird.

Anstatt mit einem Grundeinkommen alle gleich zu behandeln und so zu tun, als sei das sozial gerecht, sollte die Auseinandersetzung um den Ausbau des Sozialstaates im Bündnis mit Gewerkschaften, Sozialverbänden und Kirchen offensiv geführt werden.

Die Linken scheinen wohl die Aufgaben der Gewerkschaften nicht verstanden zu haben, aber sozialstaatliche Fragen gehören da jedenfalls nicht dazu. Ebenso ist es verwunderlich, dass die Linken (!) hier die Kirchen vorschicken.

Bislang müssen sich Unternehmen bei Lohnzahlungen nämlich an der Höhe der Reproduktionskosten orientieren.

Reproduktionskosten ist ein Begriff mit verschiedenen Bedeutungen. In diesem Falle soll es wohl bedeuten, dass Menschen durch den Lohn gerade so in der Lage seien, ihre Arbeitskraft am Leben zu halten. Aber in Zeiten, in denen wir von “Aufstockern” reden, scheint dieses Prinzip wohl ohnehin nicht mehr zu gelten.

Wenn der Staat aber sicherstellt, dass die Menschen durch ein BGE ausreichend Einkommen für Wohnraum, Essen und Kleidung haben, muss der Lohn nicht mehr existenzsichernd sein. Arbeit bekäme den Charakter eines Zuverdienstes.

Genau das sehe ich als Stärke: wir definieren die Arbeit um. Ja, Arbeit ist dann nicht mehr die Basis für das Existenzminimum, sondern genau so wie es beschrieben wird: es ist dann nur der Hinzuverdienst. Und das ist der kleine, aber feine Unterschied, den diese Arbeitsgruppe verkennt: Wenn Arbeitnehmer völlig repressionsfrei Arbeit ablehnen dürfen, so können sie auch auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern verhandeln. Sie dürfen dann sagen: “Nee, für dieses lächerliche Geld muss ich keinen Finger krumm machen.” Sie dürfen aber auch sagen: “Egal, wieviel ich dafür bekomme – ich habe einfach Bock dazu.”

Neoliberale Befürworter des BGE sehen dieses als Rammbock, um den Sozialstaat zu zertrümmern.

Nochmal langsam: Ein Land, in dem sichergestellt ist, dass jeder Wohnraum, Essen und Kleidung (und vielleicht auch eine Krankenversicherung) hat, ist die Zertrümmerung des Sozialstaates? Hallo. Irgendjemand zu Hause?

Selbstverständlich wollen wir den unerhörten Reichtum der Millionäre und Milliardäre gerecht verteilen, aber gesellschaftliche Umverteilung tritt nicht einfach ein, nur weil man es finanziell durchrechnet und programmatisch beschließt.

Wie auch immer man zu unerhörtem Reichtum stehen mag: diese Debatte ist völlig unabhängig von der BGE-Frage.

Dazu zählen die Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung, eine höhere Personalbemessung in Krankenhäusern, die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit oder die Abschaffung von Hartz IV

Wenn wir von der Personalbemessung in Krankenhäusern absehen (wo ich keinerlei Bezug zur BGE-Debatte sehe), werden die anderen Themen gerade durch das BGE obsolet. Wenn Arbeit nicht mehr als Grundlage des Existenzminimums gesehen wird und Hartz IV überwunden ist, so kann jeder die eigene Arbeitszeit reduzieren. Und die Massenarbeitslosigkeit würde zwar durch BGE nicht beseitigt werden, aber die heutigen Folgen und Stigmatisierungen wären ad acta.

DIE LINKE muss sich deshalb um betriebliche Verankerung bemühen und diese Kämpfe leidenschaftlich unterstützen und sich nicht an programmatische Forderungen klammern, die an den realen Kämpfen in den Betrieben vorbeigehen.

Der Abschluss fasst es in meinen Augen recht gut zusammen: diese Gruppierung ist irgendwo in der Mitte des letzten Jahrhunderts hängen geblieben und zementiert die zentrale Rolle der Arbeit. Fundierte Argumente kann ich dieser Schrift leider nicht entnehmen. Ich würde mir wünschen, wenn sich diese Partei mit BGE und den verschiedenen Ansätzen auseinander setzen würde – und dann solche Modelle und Stellschrauben in den Vordergrund rückt, welche sie für geeignet hält.