Fahrscheinlos
Am 26.06.2015 hat die Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus ihre „Studie zum Fahrscheinlosen Nahverkehr” vorgestellt. Ich nehme mit diesem Beitrag die Studie kritisch auseinander!
Machbarkeitsstudie Fahrscheinfrei
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Vorbemerkungen
Im Berliner Wahlkampf war eine zentrale Forderung der Piraten die Einführung eines fahrscheinlosen Nahverkehrs. Die Finanzierung soll über eine kommunale Abgabe erfolgen. Nun sind fast vier Jahre vorbei. Vier Jahre, in denen zu dem Thema verhältnismäßig wenig passierte. Zumindest in der Öffentlichkeit. Innerparteilich gab es durchaus die eine oder andere Auseinandersetzung.
Motivation
Meine persönliche Motivation bei dem Thema ist die Stadtökologie: Vermeidung von Lärm, Abgasen und Staus, Reduzierung von Verkehrsflächen, Weniger Parkplätze – und das ganze möglichst ohne Verbote.
Kurz: Schaffung einer lebenswerteren Stadt. Und das gelingt nur, wenn Leute aus den Autos gelockt werden. Fahrscheinloser Nahverkehr ist ein Werkzeug dazu, aber bei weitem nicht das einzige!
Natürlich geht das Thema einher mit einer sozialen Komponente: Mobilität soll unabhängig vom Geldbeutel erreicht werden. Aber das ließe sich auch damit erreichen, wenn der Preis des Sozialtickets sich an dem Wert orientiert, der bei Sozialleistungen als Bedarf für den öffentlichen Nahverkehr angesetzt wird (und umgekehrt).
Rant
Als Mitglied der Piratenpartei und Mitglied der mittlerweile verstorbenen Arbeitsgruppe ÖPNV (Ökosoziales Projekt Berlin) macht es mich zugegebenermaßen traurig, dass diese Studie ohne Zusammenarbeit mit der Parteibasis entstanden ist. Und das in einer Partei, die sich Basisdemokratie auf die Fahnen geschrieben hat. Ich erinnere mich gerne an die Worte des verkehrspolitischen Sprechers Andreas Baum von 2011 zurück:
Ich finde es viel spannender, immer Rückmeldung und Anregung zu bekommen und zusammen etwas auszuarbeiten, als in kleiner Runde etwas zu machen und am Ende zu präsentieren.
Diese Studie ist nun das genaue Gegenteil: in kleiner Runde wurde etwas gemacht und am Ende vorgestellt. Das ist schade!
Abgrenzung
Geografisch
Der fahrscheinlose Nahverkehr ist ein Berliner Thema. Zwar ist es wünschenswert, dieses Thema gemeinsam mit Brandenburg anzugehen – aber aus Blickpunkt der Berliner Politik können wir den Brandenburgern keine Vorgaben geben. Von daher kann aus Sicht der Berliner Politik diese auch nur auf das Berliner Gebiet sich beziehen. Das führt natürlich zu unschönen Effekten an den Grenzen. Beim Verlassen von Berlin mit der S-Bahn wird also ein Fahrschein nötig.
Zu diesem Ergebnis kommt auch die Studie: es ist rechtlich nicht zulässig, in Berlin Abgaben von Brandenburgern erheben zu wollen.
Nutzerkreis
Häufig steht die Frage im Raum, ob auch Besucher und Touristen von der Bezahlung von Fahrscheinen befreit sein sollen. Die Antwort ist aus meiner Sicht ganz klar: Ja!
Denn auch die Berliner haben schließlich etwas davon, wenn Touristen sich nicht per Auto (ggf. Mietwagen) im Stadtbild fortbewegen. Ferner würde die Bewirtschaftung von Automaten und die Fahrtkartenkontrolle auch künftig aufrecht erhalten bleiben müssen, so lange es Personengruppen gibt, welche Fahrscheine kaufen müssen.
Nichts desto trotz muss man an dem Punkt auch Kompromisse eingehen, eben um politische Mehrheiten für das Thema zu gewinnen. Allein aus diesen Aspekt ist es natürlich wichtig, sich den „Bürgertickets” nicht zu verwehren.
Potentialanalyse „Glaskugel” und Finanzbedarf
Wie wird sich das Mobilitätsverhalten verändern, wenn ein fahrscheinloser Nahverkehr eingeführt wird? Über diese Frage kann lange diskutiert werden. Ich habe kritische Stimmen beim Verkehrsclub Deutschland vernommen:
Abschließend muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass alle bisherigen Erfahrungen zeigen, dass für eine häufigere Benutzung des ÖPNV durch MIV-Nutzer oder ÖPNV-Seltennutzer nicht in erster Linie der Preis entscheidet, sondern die Angebotsqualität, die die Wünsche der Nutzer nach flexibler und verlässlicher Mobilität befriedigen muss.
Dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Ich habe bisher die Auffassung vertreten, dass mit der Einführung des fahrscheinlosen Nahverkehr auch Angebotsverbesserungen durchgeführt werden müssen, um den Effekt zu verstärken. Doch was bewirkt allein das Instrument?
An dieser Stelle sollte laut der Skizze diese Studie eine Antwort liefern – doch sie lässt mich hoffnungslos zurück:
Die Annahmen dieser hier gewählten Szenariovariante führen zu einem Mehrbedarf an öffentlichen Verkehrsleistungen von ca. 14 % gegenüber dem Niveau ohne fahrscheinfreien Nahverkehr (vgl. Tabelle 8), was – ableitend aus dem konsumtiven Finanzierungsbedarf (vgl. C.3.4) – jährlich zwischen 271 Mio. EUR und 326 Mio. EUR Mehrkosten verursacht. Insgesamt werden zur Erstellung aller ÖPNV-Leistungen in Berlin zwischen 2,2 Mrd. EUR und 2,7 Mrd. EUR pro Jahr notwendig sein (Betriebskosten).
modal split nach Verkehrsleistung Fuß Fahrrad ÖPNV Pkw ohne fahrscheinlosen Nahverkehr SrV 2008 Berlin 4,2% 6,6% 44,5% 44,7% Mobilitätstrend 2020 3,9% 7,8% 45,5% 42,8% mit fahrscheinlosem Nahverkehr (Szenario 2.2; Jahr 2020) modal split 4,0% 9,9% 53,2% 32,8% Verkehrsleistung (absolut in Mio. Pkm ) 839 2.071 11.086 6.830 Veränderung ggü. Mobilitätstrend 2020 – – +13,9% -25,3% Tabelle 8: Gegenüberstellung der Verkehrsleistung in Berlin nach Verkehrsmitteln ohne fahrscheinlosen Nahverkehr und mit fahrscheinlosem Nahverkehr (Szenario 2.2; Jahr 2020)
Aua! Dieser Abschnitt auf Seite 54, der eigentlich Dreh- und Angelpunkt der Studie ist, überschüttet mich mit Zahlen!
SrV 2008 Berlin
Gehen wir die Tabelle zeilenweise vor: „SrV 2008 Berlin” wird nicht an dieser Stelle erklärt oder verwiesen. Auf Seite 13 wird dazu Bezug zu einer Studie der TU-Dresden hinsichtlich einer Verkehrserhebung genommen. Da die Studie nur den Modal Split auf Basis von zurückgelegten Wege basiert, für den weiteren Verlauf allerdings die Gewichtung mit Entfernungen benötigt wird, wird nach Fußnote 9 der Seite 13 eigene Berechnungen angestellt. Es ist nicht unmittelbar nachvollziehbar, was genau gerechnet wurde. Es wurden die spezifische Verkehrsleistungen (also Personenkilometer je Tag und Person) ins Verhältnis gesetzt (vgl. Zahlenwerk, Seite 65).
Zwischen den wiedergegeben und errechneten Zahlen auf Seite 13 und Seite 54 gibt es Abweichungen.
Mobilitätstrend 2020
Die folgende Zeile gibt den Mobilitätstrend 2020 an. Diese Angabe ist ein fiktiver Wert. Zwar wird zuvor auf Seite 14 die Demografieprognosen des Senats und einige theoretische Annahmen wiedergegeben. Allerdings fehlen konkrete Annahmen, wie sich bspw. das steigende Durchschnittsalter auf den Modal Split auswirkt.
Fahrscheinloser Modal Split
Aufbauend auf diesem fiktiven Mobilitätstrend 2020 wird nun ein Modal Split mit fahrscheinlosen Nahverkehr angegeben. Auch hier wird nicht ersichtlich, warum konkret die Werte sich ändern. Für den ÖPNV ergibt sich ein Anstieg von ca. 17% (nicht wie angegeben 14%!). Besonders beeindruckend an diesen Zahlen ist die Annahme, dass gleichzeitig auch die Verkehrsanteile für Fußgänger (3,9% auf 4,0%) und Radfahrer (7,8% auf 9,9%) steigen.
In der belgischen Stadt Hasselt wurde nämlich die Beobachtung gemacht, dass wesentlich mehr Fußgänger und Radfahrer in den Bus gestiegen sind als Autofahrer. Das bestätigte sich auch in Templin. Und bei einer ebenso erwähnten Studie zum Semesterticket in NRW sind durch das Ticket weit mehr Fahrten induziert als PKW-Fahten verlagert. Gründe, warum ausgerechnet in Berlin ein gegenteiliger Effekt eintreten soll, kann ich nicht entnehmen.
(Anmerkung: Die Piratenfraktion nennt begleitende Maßnahmen, die aber sowohl mit als auch ohne fahrscheinlosen Nahverkehr umgesetzt werden können. Daher sollten diese kein Unterscheidungskriterium darstellen.)
(Anmerkung, die 2: Anders als der VCD sehe ich per se keine Probleme mit induzierten Fahrten. Also Fahrten, die Menschen gerne mit den ÖPNV durchführen würden, aber aufgrund der derzeitigen Tarife sich keinen Fahrschein leisten können und daher unverhältnismäßig weite Wege zu Fuß zurücklegen.
Verkehrsleistung
Nun wird die Verkehrsleistung ermittelt. Grob gesagt sind das die Wege aller Personen in Berlin in einem Jahr. Die Formel auf Seite 43 ist falsch, da sie nur die Verkehrsleistung einer Person berücksichtigt. Ferner ergibt diese Formel aufgrund der Datenlage keinen Sinn, schließlich liefert die Studie aus Dresden schon die zurückgelegten Wege einer Person an einem Werktag (spezifische Verkehrsleistung je Person).
Korrekterweise kann ein Werktag jedoch nicht auf alle 365 Tage hochgerechnet werden, da das Verkehrsverhalten am Wochenende geringer ausfällt. Die Studie referenziert auf ein Verfahren zur Reisezeiteinsparung im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsuntersuchung bei Verkehrswegeinvestitionen. Dort wird angenommen, dass die an einem Werktag einesparte Zeit ein Schüler an 250 Tagen erfährt, ein Erwachsener dagegen an 300. Ich kann nicht beurteilen, ob genau dieses Verfahren hier übertragbar ist. Die grundsätzlichen Annahmen an sich erscheinen mir aber plausibel. Offen wäre die Frage, ob es noch andere Bevölkerungsgruppen mit entsprechenden Abweichungen gibt.
Die Studie gibt nicht an, von wie vielen Schülern ausgegangen wird. Der Einfachheit betrachte ich nur die U18-Liga als Schüler.
Gruppe | Anzahl Einwohner | Anzahl Tage | Strecke | Jährl. Verkehrsleistung |
---|---|---|---|---|
U18 | 578.400 | 250 Tage | 8,9 km/ Tag | 1.286.940.000 Pkm |
Rest | 2.373.800 | 300 Tage | 8,9 km/ Tag | 6.338.046.000 Pkm |
Ü65 | 746.100 | 300 Tage | 8,9 km/ Tag | 1.992.087.000 Pkm |
Gesamt | 9.617.073.000 Pkm |
Diese Verkehrsleistung berücksichtigt noch nicht die Zunahme von 14 bzw. 17 %.
Zunahme um | Jährliche Verkehrsleistung |
---|---|
14% | 10.963 Mio Pkm |
17% | 11.252 Mio Pkm |
Grob über den Daumen gepeilt landen wir um die ermittelten 11.086 Mio Personenkilometer im Jahr.
(Die Studie erklärt auf Seite 43, dass die errechneten Mengen für das Jahr 2013 sich mit denen aus der Statistik decken. Allerdings – übertragen gesprochen – wird die Aufteilung von Obst, Gemüse und Fleisch mit der Aufteilung von Äpfel, Birnen und Quitten belegt)
(Touristen wurden hier noch nicht betrachtet. Diese erhöhen die Verkehrsleistung.)
Betriebskosten
Aber zurück zum oben zitierten Abschnitt: Basierend auf der Verkehrsleistung werden die jährlichen Betriebskosten ermittelt. Dazu wird ein Kostensatz angewandt:
Als Kostensatz zur Erstellung von Nahverkehrsleistungen in Berlin wurden 0,22 EUR/Pkm angesetzt. Dieser Wert leitet sich aus dem Berliner Kostensatz zum Ausgleich von Verkehrsleistungen nach § 45a PBefG 110, einem bundesweiten Vergleich sowie eigenen Berechnungen ab und gilt als ausgewogen und für den Berliner Verkehrsmix anwendbar. [..] Auf Grund der schlechten Datenlage wurde mit einer Spanweite von +/-0,02 EUR/Pkm gerechnet.
Diese Stelle kann ich zumindest rechnerisch nachvollziehen. Aufgrund der zuvor ermittelten Verkehrsleistung wird ein Faktor von 0,2 Euro je Pkm als untere Grenze und 0,24 Euro je Pkm als obere Grenze genommen. So kommt die Studie dann auch ÖPNV-Kosten zwischen 2217 Mio uns 2681 Mio Euro im Jahre 2020 mit fahrscheinlosen Nahverkehr.
Allerdings ist mir hier die Granularität zu ungenau und die schlechte Datenlage unbefriedigend. Schon die Abweichung von 1ct je Personenkilometer ergibt Abweichungen in der Kalkulation in Höhe von 111 Mio Euro. Das sind keine Erdnüsse mehr, das ist der Dreh- und Angelpunkt einer Finanzierungsstudie.
Die Studie referenziert auf eine Anfrage im Abgeordnetenhaus. Dabei hatte die BVG im Jahre 1995 einen Kostensatz 0,3091 Euro je Pkm ermittelt, der Senat „drückte” diese Zahl im Jahr 1998 auf 0,268 Euro je Pkm. Dieser Wert galt aber nur bis 2004. Einen offiziellen Wert gibt es nicht mehr. Nun erläutert die Studie in einer Fußnote:
Es ist anzunehmen, dass diese Kostensätze auskömmlich sind und den tatsächlichen Bedarf überkompensieren, weshalb bei der vorliegenden Studie ein geringerer Kostensatz angesetzt wurde.
An dieser Stelle hätte die Erkenntnis kommen müssen, dass eine Kalkulation schlicht und ergreifend nicht mehr möglich ist. Es hätte eine andere Strategie gefahren werden müssen, mit der die Kosten prognostiziert werden.
Fazit
Die Studie referenziert auf Zahlen, die teilweise falsch abgeschrieben werden. Darauf aufbauend wird eine Glaskugel-Prognose für 2020 erstellt. Darauf aufbauend wird eine utopische Verkehrsmittelverteilung mit fahrscheinlosen Nahverkehr aufgestellt. Darauf aufbauend wird eine Verkehrsleistung ermittelt. Und die wird mit einem beliebigen Kostensatz hochgerechnet. Heraus kommt ein Finanzierungsbedarf.
Finanzierungsinstrumente
Die Kapitel D und E versuchen verschiedene Instrumente aufzuzeigen. Kapitel D betrachtet das Bürgerticket (Methode Linke). Zudem ein Bürgerticket mit Ausschluss des morgendlichen Berufsverkehrs (Methode Grüne). Dies kombiniert mit Gästeticket und Arbeitgeber-Beitrag und Gäste-Karte. Im Kapitel E die fahrscheinlose Variante.
Bürgerticket
Im Kapitel D.1.2 (Seite 61) taucht eine weitere wichtige Zahl auf: 719 Mio Euro. Das ist die Geldmenge, die bereits heute schon das Land zur Finanzierung beigibt. Woher diese Zahl nun wieder stammen mag? Keine Ahnung! Die Studie referenziert auf eine Anfrage zur Finanzierung des ÖPNV. Doch rechne ich die Werte zusammen, lande ich bei 686 Mio Euro. Wobei dies die Summe der Gesamtzahlungen ist, die Anfrage ist nicht konkretisiert auf Betriebskosten.
Nun wird festgelegt, dass Transferleistungsempfänger (konkret Wohngeld, ALG II, Grundsicherung, …), Asylbewerber, Auszubildende, Studenten sowie Schwerbehinderte (ab 80%) einen ermäßigten Satz von 15 bis 20 Euro zahlen (die 20 Euro spielen aber in den weiteren Kapiteln keine Rolle). Der Bedarfssatz für Mobilität betrug im Jahr 2013 bereits 23,54 Euro, daher ist nicht klar, warum dieser Wert deutlich unterschritten worden ist. Es mögen Feinheiten sein, das Schüler über 18 fehlen, dafür pauschal alle Studenten (insbesondere all jene, die sich nur einschreiben, um den vergünstigen Satz in Anspruch nehmen zu dürfen). Im Vorwort geht man davon aus, dass 1,1 Mio Berliner in diese Regelung fallen.
Nun folgen zwei Tabellen mit kuriosen Zahlen (Tabelle 9 und 10), die ich in einer Tabelle mal zusammenfasse:
Kosten pro Monat | minimal | maximal |
---|---|---|
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, Schwerbehinderte mit Freifahrterlaubnis | frei | frei |
Auszubildende (über 18 Jahre), Studierende, Empfänger von Wohngeld, ALG II, Grundsicherung, Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz, Asylbewerber, Schwerbehinderteüber 80 % Schwerbehinderungsgrad | 15 EUR | 20 EUR |
Übrige Einwohner über 18 Jahre | 50-69 EUR | 46-65 EUR |
Erwerbstätige (inkl. Selbstständige, Freiberufler) | 58-80 EUR | 53-75 EUR |
Erwerbstätige + Rentner | 43-59 EUR | 39-55 EUR |
Bei der Annahme der unteren Kostengrenze entstehen für alle anderen Personengruppen über 18 Jahre ein Finanzierungsbedarf von 50 bis 69 Euro. Die Schwankung wird nicht näher erklärt, könnte aber damit zusammenhängen, dass der zweite Personenkreis Schwankungen ausgesetzt sind. Nehmen wir nun nur die Erwerbstätigen, müssen diese 58 bis 80 Euro bezahlen, also Beträge oberhalb der heutigen Abo-Monatskarte. Nun werden die Rentner wieder dazu gerechnet (es gibt also immer noch Personengruppen, die in dem Falle nicht erfasst sind, bspw. arbeitslose Personen, die keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen), so ist der Tarif geringer, als wenn alle belastet werden.
Da bei einem Bürgerticket immer noch Fahrkarten verkauft werden müssen, fehlen mir in der Betrachtung die verbleibenden Erlöse.
(Ich frage mich, wie man auf die Idee überhaupt kommen kann, Rentner von der Abgabe gänzlich befreien zu können und somit Zahlen zu erzeugen, die dem heutigen Monatsticket übersteigen)
Bürgerticket (nur Nebenverkehrszeit)
Diese Variante schließt die Benutzung des Bürgertickets zwischen 6 und 10 Uhr aus. Idee des ganzen ist die Abschwächung des Peaks. Es wird die Annahme getroffen, dass in den verbleibenden 20h Gültigkeit 78% des Verkehrsaufkommens in die Berechnung einbezogen werden muss (diese Annahme wird in Fußnote 142 auf Seite 71 belegt).
Allerdings ist die lineare Reduzierung der Kosten hier zu kurz gedacht. Schließlich ist gerade der Witz dieses Tickets, den Peak gering zu halten. Also die teuersten Personenkilometer. Also die Personenkilometer, wo der Bus tagsüber auf irgendeinen Betriebshof steht und nur wenige Kilometer am Tag zurücklegt.
Die Überlegung ist zur Überbrückung des Morgens einen Arbeitgeberbeitrag von 21 Euro je Monat und Arbeitsnehmer zu verlangen.
Gästeticket
Die Studie geht von 27 Mio Übernachtungen aus. Würde ein Gästebeitrag von 1,50 Euro erhoben werden und die Übernachtungszahlen konstant bleiben, so ergebe sich eine Finanzierungsoption von 40,4 Mio Euro. Das klingt realistisch. Das einzige Problem ist die Heranziehung bei alternativen Übernachtungsformen wie CouchSurfing (darauf geht die Studie in der Fußnote ein).
Veranstalterbeitrag
Die Studie geht auf Distanz zu dieser Abgabeform in Kombination mit dem Bürgerticket. Es besteht die Gefahr von Ticket-Dopplungen. Die Einpendler können schwer ermittelt werden. Allerdings könnte der Veranstalterbeitrag dann erhoben werden, wenn durch Veranstaltungen Sonderzüge benötigt werden, so wie bspw. bei einem Endspiel im Olympiastadion. Der Einfachheit sollte diese Betrachtung aber außen vor bleiben, weil dann konkreter Mehraufwand im Bedarfsfalle in Rechnung gestellt werden sollte.
Fahrscheinlos
Die rechtliche Beurteilung kommt zu dem Ergebnis, dass auf Grund des Gleichheitsgrundsatzes im Grundgesetz verschiedene Nutzergruppen verursachergerecht aufzuteilen ist:
Gruppe | Anteil | Kosten | Differenzierung | Beitrag |
---|---|---|---|---|
Bürger | 50-60% | 835-1002 Mio | Pro Kopf, soziale Staffelung | 22-29 Euro, Sozial: 15 Euro |
Arbeitgeber | 20-30% | 334 – 501 Mio | Pro Arbeitnehmer | offen |
Touristen | 5-15% | 84-251 Mio | Pro Übernachtung | offen |
Einzelhandel | 5-15% | 84-251 Mio | Umsatzbezogen oder je Publikumsverkehr | offen |
Veranstaltung | 1-10% | 17-167 | je Ereignis, Anzahl Besucher | offen |
Die Festlegung der Anteile basiert auf Annahmen. Es gibt die bereits benannte Studie der TU-Dresden, die die Wegeziele (Arbeit, Wohnen, Einkauf, Freizeit, …) unterscheidet, aber nicht den Status insbesondere bei Touristen. Die Aufteilung der Kosten geht von 1,7 Mrd. Euro aus (das ist der Mittelwert der Gesamtkosten unter Abzug der 719 Mio Euro Senatsanteil).
Unter der Berücksichtigung von den ca. 3,7 Mio Einwohner ergibt sich dann folgende Rechnung:
Gruppe | Anzahl Einwohner | Kostendeckung | Je Kopf |
---|---|---|---|
U18 | 578.400 | 0 | 0 |
Sozial | 1.100.000 | 198 Mio | 15 Euro |
Rest | 2.019.900 | Rest | 22-29 Euro |
Für die anderen Nutzergruppen gibt es keine Vorschläge „mangels statistischer Daten”. Das ist gewissermaßen unbefriedigend, weil an diesem Punkt nur 50% untersetzt ist.
Zusätzliche Instrumente / Integration
Grund(erwerb)- und Gewerbesteuer
Die Studie prüft die Erhöhung der Hebesätze der Grundsteuer, Grunderwerbsteuer und Gewerbesteuer. Diese Instrumente sind möglich. Da sie allerdings eine Steuer sind, gibt es keine verbindliche Zweckbindung. Das Problem in Berlin ist allerdings, dass diese Hebesätze schon sehr hoch angesiedelt sind, insbesondere die Grundsteuer B. Vorteile dieses Verfahrens ist allerdins, dass sie bereits bestehen und die Erhebung keinen Mehraufwand nach sich ziehen.
Die Tabellen sind allerdings schwierig zu lesen. Es werden Anteile angegeben, die ich nur auf die Mehrkosten beziehen und dementsprechend hoch sind, andererseits auf die Gesamtkosten. Die Finanzierungslücke, um die es geht, ist aber abzgl. des Senatanteils.
City-Maut
Die Piraten haben noch keine Position zur City-Maut. Und je nach Ausgestaltung sollten sie Bauchschmerzen haben. Im konkreten wird die Idee der Einfahrtberechtigung vorgeschlagen, sprich: wer nach Berlin reinfährt, muss 10 Euro bezahlen. Unter Berücksichtigung eines 10%igen Rückgangs bei den Einpendlern würden 105 Mio Euro im Jahr erwirtschaftet werden können.
Wie diese Zahlen zustande kommen, keine Ahnung. Wenn 190.000 Einpendler an 250 Tagen im Jahr nach Berlin pendeln, würden 47,5 Mio Einfahrten im Jahr entstehen. Unter Abzug des 10%igen Rückgangs und der 40%-Systemkosten würden sich ohne die Berliner schon höhere Einnahmen ergeben. Allerdings: wer an 250 Tagen nach Berlin reinfährt, müsste dann 2.500 Euro im Jahr abdrücken. Das ist sehr viel Geld!
Parkraumbewirtschaftung
Der Ertrag einer Parkraumbewirtschaftung fällt aufgrund der zu geringen Strafen für Falschparker und der Berliner Parkgebührenordnung sehr gering aus. Für die Altstadt Köpenick wurde ein Überschuss von 30.000 Euro je Jahr ermittelt. Und auch diese Zahlen durfte man pessimistisch sehen. Ferner gibt es in Treptow-Köpenick einen Bürgerentscheid gegen diese Bewirtschaftung, der zu Beginn der Studie bereits bekannt war.
Attraktivierung des Rad- und Fußverkehrs
Möglicherweise soll dieses Kapitel eine Antwort sein auf die Annahme, dass mit dem fahrscheinlosen Nahverkehr mehr Fußgänger und Radfahrer unterwegs sind. Es wird ein Betrag von 20 Mio Euro optional je Jahr eingeplant, der für die Attraktivierung dient. Einher geht dies mit einer Deattraktivierung des MIV, bspw. durch Rückbau und Verengung von Straßen. Diesen Aspekt hätte ich mir umfangreicher vorgestellt, insbesondere wenn durch den Rückbau von Straßen Instandhaltungskosten gesenkt werden können.
Infrastruktur
Die Studie behandelt auch die investitiven Kosten, die strikt getrennt von Betriebskosten sind. Konkrete Maßnahmen sind Erschließungsbeiträge, Städtebauliche Verträge, Standortgemeinschaften und Stellplatzablöse.
Die städtebaulichen Verträge sind derzeit vor allem durch Mietbindung belegt, so dass hier wenig Potential abgeschöpft werden kann. Die Stellplatzablöse erachte ich als schwierig, da Investoren gezwungen wieder gezwungen werden, PKW-Stellplätze zu bauen, von denen sie sich freikaufen können.
Finanzierungsszenarien
Es folgt ein abschließendes Kapitel mit insgesamt fünf Finanzierungsszenarien
- Bürgerticket (Ganztätig, mit City-Maut und Gästebeitrag)
- Bürgerticket (Nebenverkehrszeit, mit City-Maut und Gästebeitrag)
- Bürgerticket (Ganztätig, ohne City-Maut, mit Gästebeitrag)
- Bürgerticket (Nebenverkehrszeit, ohne City-Maut, mit Gästebeitrag)
- Fahrscheinlos (Ganztätig, mit City-Maut ohne Gästebeitrag)
Posten | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 |
---|---|---|---|---|---|
Umzulegende Kosten | 1498 | 1173 | 1498 | 1173 | 1498 |
Grunderwerbssteuer | -30 | -30 | -30 | -30 | -30 |
Gästebeitrag | -40 | -40 | -40 | -40 | 0 |
City-Maut | -105 | -105 | 0 | 0 | -105 |
Parkraum | -10 | -10 | -10 | -10 | -10 |
Wegfall Ticketvertrieb | 0 | 0 | 0 | 0 | ?? |
Verleibende Kosten | 1313 | 988 | 1418 | 1093 | 1353 |
Anteil Umlage | 100% | 100% | 100% | 100% | 50% |
Umzulegen | 1313 | 988 | 1418 | 1093 | 677 |
Sozialsatz | -198 | -198 | -198 | -198 | -198 |
Verbleibt | 1115 | 790 | 1220 | 895 | 479 |
Pro Kopf und Jahr | 552 | 391 | 604 | 433 | 237 |
Pro Kopf und Monat | 46,00 | 33,59 | 50,33 | 36,92 | 19,76 |
Laut Studie | 42 | 29 | 47 | 33 | 19 |
Noch zu verteilen | 0 | 0 | 0 | 0 | 677 |
(Erklärungen zu meiner Berechnung: Basierend auf dem Demografieprognose für 2020 und unter Annahme von 1,1 Mio Menschen für die Sozialregelung, würden bei einem verringerten Satz von 15 Euro je Monat jährlich 198 Mio Euro eingenommen werden. Der verbleibende Bedarf wird auf 2019900 Einwohner verteilt. Der Wegfall der Vertriebskosten spiegelt sich nicht in den Zahlen wieder)
(Mir fehlen in der Rechnung die sonstigen Einnahmen der Verkehrsbetriebe. Das sind zunächst Werbung. Die Fußnote 37 auf Seite 20 geht von ca. 8 Mio Euro in Fahrzeugen aus – auf Basis einer „Anfrage”. Die BVG weist im Geschäftsbericht 2013 konzernweit 17 Mio Euro aus. Dazu gibt es Einnahmen durch Vermietung bspw. der Läden auf Bahnsteigen (laut „Geschäftsbericht” 4,8 Mio Euro im Jahr 2013). Eine weitere reichliche Mio Euro erzielt die BVG durch die Vermietung von Fahrzeugen (bspw. die Straßenbahn). Aber allein durch diese eben genannten Posten könnten 23 Mio Euro abgezogen werden. Zudem weitere Einnahmen durch Beteiligungen)
O-Töne
Am 26.06. stellte die Piratenfraktion die Ergebnisse im Technikmuseum vor. Ich gebe einige O-Töne der Kritiker wieder.
Heidi Tischmann (VCD Deutschland)
Der ÖPNV ist motorisierter Verkehr und per se nicht umweltfreundlich. Eine kostenlose Nutzung des ÖPNV ist gegenüber dem Fußgänger und Radverkehr zu preiswert.
Matthias Gibtner (IGEB)
Das Berliner Verkehrssystem ist in seinem augenblicklichen Zustand überhaupt nicht in der Lage wäre, einen irgendwie nennenswerten Mehrverkehr abzuwickeln. Wir haben jetzt schon auf innerstädtischen U-Bahnlinien im Früh- und Nachmittagsberufsverkehr die Situaition, das 100% gemeldet werden. Das heißt: Züge fahren ab, ohne das alle Fahrgäste auf dem Bahnsteig den Zug betreten können. [..] Ein Mehrverkehr wäre im Moment gar nicht zu bewältigen.
Dr Axel Friedrich
Wo ist der Einfluss der Bürger auf den heutigen ÖV? Wir haben einen Aufgabenträger, was trägt er eigentlich? Ich hasse solche Wörter. Der Begriff Bürgerticket ist in der Studie aus meiner Sicht missbraucht worden. Ursprünglich war es mal definiert, dass die Bürger eingebunden werden in die Entscheidung. Welchen ÖV kriegen wir eigentlich? Das heißt auch Transparenz der Finanzströme! Ich habe mal versucht, von einigen ÖV-Unternehmem Zahlen zu bekommen. Ich wünsche Ihnen allen viel Spaß bei dieser Aktivität. Wieso eigentlich? Wir finanzieren die! Wieso kriege ich die Daten nicht? Ich möchte einen ÖV, der von den Bürgern entschieden wird. Deswegen Bürgerticket. Nicht nur umlagefinanzierter ÖV.
Beurteilung der Studie
Die Studie bringt die Piraten wieder einmal zurück in die Medien mit einem ihrer zentralen Wahlkampfthemen. In soweit auch ein Dankeschön an alle, die daran mitgewirkt haben.
Allerdings hat mich die Studie enttäuscht. Die Kalkulation baut auf sehr wagen Annahmen auf, bei der schon kleine (Rundungs-)Differenzen die Kosten um dreistellige Mio-Beiträge verschiebt. Auf dieser Grundlage kann keine solide Kalkulation durchgeführt werden.
Viele Zahlen sind nicht belegt oder nur schwer nachzuvollziehen. Ich habe für diesem Beitrag die eine oder andere Kalkulation versucht nachzubauen – und bin nicht selten auf andere Ergebnisse gekommen. Teilweise sind die Zahlen aber auch falsch (der Modal Split auf Seite 13 hätte ich auf Seite 54 wiederfinden müssen).
Der eigentliche Clou der Studie ist nun folgender: Während bei den Bürgertickets 100% der Kosten auf die Bürger umgelegt werden, entstehen verhältnismäßig hohe Kosten (vorbehaltlich des wackeligen Zahlenfundaments). Beim fahrscheinlosen Nahverkehr wird nur ca. die Hälfte auf die Einwohner verteilt. Damit folgt die Studie der Idee eines Finanzierungsmixes. Eine der bisher ungelösten Debatten war die Einbeziehung von Unternehmen, Übernachtungsgästen und Einzelhandel – insbesondere mit dem Ziel, möglichst doppelte Belastungen zu vermeiden. Allerdings ist genau diese Hälfte nicht untersetzt! Damit kann die Studie allenfalls ein Zwischenergebnis sein.
Bestimmte Formen der Finanzierung hätten auf jeden Fall einer Diskussion in der Partei bedurft, so eben zur City-Maut.
Lege ich zur Beurteilung die Konzeptskizze dagegen, so ergeben sich weitere Defizite. So sind die Schwerpunkte der Nachfragesteigerung durchaus sehr relevant. Wenn bspw. das Ergebnis ist, dass die U2 keine weiteren Fahrgäste aufnehmen kann und die U10 gebraucht wird, so ist das keine Spontan-Maßnahme, die bis 2020 realisierbar ist.
Presse / Medien
Aus dem RBB
Die Autoren selbst schränken schon in der Einführung der Studie die Aussagekraft ihrer Arbeit ein: Zahlreiche Variablen, schwer vergleichbare Daten und unterschiedliche Prognosen ließen eine genaue Aussage über die tatsächliche Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs nicht zu. Deshalb mache die Studie nur Aussagen mittels „unverbindlicher Kenngrößen” und könne keine „genaue belastbare Quantifizierung des Mehrbedarfs” liefern. Eine detaillierte Bedarfsanalyse sei mit den finanziellen Mitteln nicht zu leisten gewesen.
So ist in der Studie nicht genau berechnet, wie sich das Nutzungsverhalten tatsächlich ändert, wenn plötzlich nicht mehr für Fahrscheine bezahlt werden muss. „Konkrete Berechnungen konnten wir in der Genauigkeit nicht liefern”, sagt Co-Autor Maaß, „Wer zahlt am Ende wieviel – solche praxisrelevanten Zahlen müsste man nochmal ausführlich erarbeiten.”
Auch tauchen notwendige Investitionskosten nicht auf. Es gibt keinen Posten, der den Bedarf an neuen Zügen, Bahnsteigen, Umbauten und anderen Kosten deckt.
Außerdem wird im Rechenmodell davon ausgegangen, dass im Jahr 2020 die staatlichen Subventionen in der gleichen Höhe vorhanden sind wie heute. Davon ist jedoch nicht auszugehen, da ab dem Jahr 2019 die Fördermittel des Bundes wegfallen.
Nachträgliches
Auf diese Artikel gab leider keinerlei Feedback der Piratenfraktion.
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