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Fahrradpotential

Unter dem Titel “Absolute Mehrheit fürs Rad – das muss gehen!” veranstaltete der Hamburger ADFC eine Podiumsdiskussion am 22.01.2025 im Vorfeld der Bürgerschaftswahl. Zunächst erst einmal vielen Dank für die Organisation und Durchführung. Ich weiß, wie viel Aufwand solche Events machen.

[Auf dem Podium waren die Parteien eingeladen, die bereits auch in der Bürgerschaft sitzen. Wöllte man die Debatte nach vorne bringen, wäre mindestens eine weitere Partei hilfreich, die einerseits Mobilitätswende will, andererseits aber noch nicht vertreten ist. Allein mit der Auswahl der Parteien kommuniziert auch ein ADFC – und das finde ich schade.]

Zentraler Anknüpfungspunkt ist das Radverkehrsanteil, also die Anzahl der Wege, die mit einem bestimmten Verkehrsmittel zurückgelegt worden sind, der Modal Split. In einer Studie fand der ADFC heraus, dass der Anteil des Radverkehrs bei bundesweit 13% liegt. Und ohne weitere Maßnahmen würde er auf 15% im Jahre 2035 steigen, würde man aber massiv in den Radverkehr investieren, wären auch 45% drin. Und gerade im urbanen Bereich wären locker dann 60% erreichbar. Das wäre dann die Absolute Mehrheit – so auch der Titel der Veranstaltung. Und nun waren die Parteien gefordert, sich dazu zu positionieren: wollt ihr diese absolute Mehrheit? Wollt ihr auch diese 60% plus X für Radverkehr?

[Erwartungsgemäß begrüßen die Grünen diese Bestrebungen und betonen ihre bisherigen Erfolge. Und gleichzeitig geht Anjes Tjarks auch selbstkritisch darauf ein, dass viele Prozesse eben auch langwierig sind. Unterstützung gab es hierbei von der Linken in vielen Zielstellungen. Die CDU konnte man mit “Wasch mich, aber mach mich bitte nicht nass” zusammenfassen. Natürlich hätten sie auch gerne 60% Radanteil, aber dann kommen die Bedenken und Gründe. Und die SPD ist sich ihrem Kern treu: formuliere möglichst wohlwollend, aber bleibe dabei maximal unkonkret. So bricht man keine Wahlversprechen und kann den Leuten alles versprechen.]

Wäre ich auf dem Podium gewesen, hätte ich wohl auf diese Frage ein provozierendes “Nein” geantwortet. Und vermutlich die Anwesenden schockiert, denn natürlich will ich die Verkehrswende und den Radverkehr ausbauen. Und vermutlich auch noch weit über das hinausgehen, was die Grünen wollen. Aber es gibt zwei gute Gründe, auf diese Frage mit Nein zu antworten.

Ich selbst hatte früher einen Arbeitsweg von 19 Kilometern. Eilbek-Heimfeld. Und Heimfeld da, wo es bis zum Bau der S3 den Bahnhof Tempowerk gab. Die Anreise habe ich häufig mit dem bösen Auto gemacht. Manchmal, wenn ich Bock hatte und es klappte, radelte ich auch. Ein üblicher Tag sah also so aus, dass ich zwei Wege mit dem PKW erledigte. Und anschließend viele kleine Wege zum Einkaufen, Unterhalten und Entspannen per Fahrrad. Wäre ich in dieser Verkehrserhebungsstudie herangezogen worden, hätte also geantwortet: 2 Wege mit Auto, 5 mit Fahrrad. Radverkehrsanteil 71%. Hey, ich bin über den Schnitt. Ist doch geil!

Aber ist das wirklich so toll? Den 38km Auto standen ca. 4km Fahrrad gegenüber. Eine wesentlich sinnvollere Messgröße ist die spezifische Verkehrsleistung, ich gewichte die Wege mit Entfernungen. Und plötzlich sind es nur noch knappe 10% für das Fahrrad. Und ich sollte ein schlechtes Gewissen haben.

Diese Effekte lassen sich auch in der neuen MiB-Studie erkennen: 11% der Wege mit dem Fahrrad, aber nur 4% unter Berücksichtigung der Strecke. Ähnliche Erkenntnis in der neuen SrV-Studie, hier wurden bei Großstädten 18% der Wege, aber nur 12% der Strecke ermittelt.

Im Jahr 2015 feierte sich Berlin dafür, denn Autoanteil um 2% reduziert zu haben. Nachdem ich alle Zahlen der Studie aneinandergelegt habe, habe ich festgestellt: Absolut gesehen fuhr jeder Berliner nun 300m mehr am Tag mit dem Auto. Und das ist das tolle an der Zahl: du kannst dich als Politik feiern und trotzdem keinen Beitrag zur Mobilitätswende geleistet zu haben.

Allerdings spüren die Menschen diese Verkehrsmenge auf den Straßen. Die ganze Debatte um Anteile sollten wir zur Seite legen und uns den Gesamtverkehr anschauen. Wieviele Kilometer sind die Leute pro Tag mit Verkehrsmitteln unterwegs? Und ehe ich mir Gedanken über Verlagerung zugunsten des Radverkehrs mache, will ich zunächst Gedanken opfern, ob diese Wege so sein müssen.

Und das wäre der zweite Punkt, warum ich die Frage ablehne: ich will den Verkehr insgesamt reduzieren.

Man sollte sich stets vor Augen führen, dass Mobilität das Erreichen der Ziele ist. Und Verkehr der dafür nötige Aufwand. Wenn ich heute meine Arbeit im HomeOffice erledige, dann bin ich mobil und erreiche mein Ziel sofort – auch wenn der dafür nötige Aufwand keine 10 Meter beträgt. Jedes Ziel, bei dem ich noch nicht einmal darüber nachdenke, ob sich das Abschließen eines Fahrrads lohnt, ist ein guter Weg. Mein Weg zum Einkaufen zum Beispiel: es sind nur fünf Häuser. Ich bin da zu Fuß schneller als mit dem Fahrrad.

Die Verkehrserhebungen bringen immer wieder zum Ausdruck: ab 10km Distanz pro Weg spielt das Rad kaum noch eine Rolle. Wenn man also Impulse setzt, die Wege zu kürzen, steigt der Radverkehrsanteil wesentlich stärker, als es mit Top-Infrastruktur zu schaffen wäre. Eine generelle Forderung jeder fortschrittlichen Partei sollte die Stadt der kurzen Wege sein. Das mag zwar erst einmal wie eine Utopie klingen, aber wie bei so vielen: es sind die kleinen Abwägungen und Entscheidungen. Es gab in der Vergangenheit viele stadtpolitische Fehlentscheidungen: Satellitenstädte, wie Mümmelmannsberg. Da wohnen viele, aber keim Arbeitsplätze. Es sind die Gewerbegebiete, die fast nur per Auto erreichbar sind. Es ist das Zentrum, wo alle hin pilgern, aber kaum gewohnt werden kann.

Auch hier wieder ein Beispiel von mir: ich konnte meinen Arbeitsweg inzwischen auf 2 Kilometer pro Weg verkürzen. Würde ich nach wie vor mit dem Auto fahren, ändern sich meine Verkehrsanteile nicht: 2 Wege Auto, 5 Wege Rad, 71%. Unter Berücksichtigung der Weglänge wären es schon 50% Radanteil. Allein weil 34km pro Tag entfallen.

Praktisch habe ich das neue Büro noch nie mit einem Auto angesteuert, weil es auf dieser Distanz auch keinen Sinn mehr ergibt.

So sehr wir alle Corona verfluchten: allein die Bereitschaft der Arbeitgeber für mehr Homeoffice oder auch die Erweiterung des Angebotes für Videokonferenzen sind aus verkehrstechnischer Sicht ein wahrer Segen. [Selbst im ADFC fährt nicht mehr jeder mit dem Rad zum Meeting, sondern vieles wird auch remote abgestimmt.]

Natürlich haben nicht alle Menschen in Hamburg die Chance, ihre Wege kurz zu legen. Aber es geht bei Verkehrsdebatten auch nicht um die einzelne Person, das einzelne Schicksal oder die besonderen Umstände des Einzelfalls. Es geht um die Gesamtheit. Die Menge aller Bewegungen in dieser Stadt.

Und wenn ich all diese Effekte und Gedanken berücksichtigte, dann ist mir eine absolute Mehrheit an Wegen mit dem Fahrrad schlicht egal.

Und ich will hier auch nicht falsch verstanden werden: Natürlich muss trotzdem massiv in den Radverkehr investiert werden. Und im Vergleich zu heute kann man noch viele Schippen drauf legen! Aber wir sollten uns nicht von den falschen Zahlen leiten lassen.

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