Rückblick auf Kommunalverwaltungen
Ein Kapitel meines Lebens ist zu Ende. Nach dreieinhalb Jahren habe ich die Firma, die hinter ALLRIS steckt, verlassen. Sicherlich mit einen lachenden und einem weinenden Auge. Ich durfte die verschiedensten Kommunen kennenlernen – und möchte hier einige Anekdoten zusammentragen.
Zunächst: meine Tätigkeit brachte mich unter anderen zu diesen Orten:
Dort war ich jeweils in dem Bereich rund um den Sitzungdienst tätig, einem Bereich in dem es besonders viele und vor allem ausgeprägte lokale Königreiche gibt. Häufig ist es das Vorzimmer des Bürgermeisters, den ein oder anderen lernte ich dabei auch kennen. In dem Beitrag fasse ich einige Erlebnisse zusammen: Einige schön, andere witzig, einige auch zum in die Tischkante beißen.
Wir haben in Deutschland ein Nord-Süd-Gefälle, was die Transparenz politischer Entscheidungen auf kommunaler Ebene angeht. Während in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern Tagesordnungen zunächst grundsätzlich öffentlich sind und erst das Gremium die Nichtöffentlichkeit beschließen kann, gibt es in Bayern teilweise vor der Sitzung keinerlei weitergehende Informationen. Auch Baden-Württemberg hat teilweise krude Regelungen in Bezug auf Sitzungsprotokolle. Und redete ich dann im Süden über den Norden, so erweckte ich wohl den Eindruck, über Außerirdische zu reden. Und umgekehrt über entlegene Bergdörfer.
- Meine erste Schulung in Schleswig-Holstein verlief exakt so, wie man sie sich nicht vorstellt. Ein Teilnehmerin kommentierte nahezu jedes Eingabefeld mit den Worten “Oh, Hilfe. Das wird alles ganz kompliziert!” Sie gab dem System noch nicht einmal die Chance und machte stattdessen nicht nur mich, sondern auch alle anderen im Raum verrückt. Ein älterer Herr erkundigte sich, ob die Software mit seinem Uralt-Diktiergerät funktionieren würde. Und als die Teilnehmenden die erste Beschlussvorlage speichern sollten, wurde das Speichern kommentarlos vereitelt. Das Virenschutz-Programm wurde in der Nacht zuvor aktualisiert – und sah im Speichervorgang ein Angriffsszenario. Zwanzig Augen waren auf mich gerichtet, als ich mit dem dafür zuständigen IT-Dienstleiter in der Schulung telefonierte.
- Ganz anders lief eine Schulung bei einem nichtkommunalen Kunden. Die waren enorm auf Effizienz getrimmt. Um 09:00 Uhr sollte die Schulung losgehen, ich betrat schon gegen 08:30 Uhr den Schulungsraum, um mich vorzubereiten. Die Tische standen alle in der Mitte, ein Maler strich die Wände. “Was denn, es geht doch erst um 09:00 Uhr los. Da bin ich weg und die Farbe trocken.” Der Maler beteuerte noch, dass da ja heute keine Chemie mehr drin sei und man die Farbe sogar essen könnte. Ich rief die Projektleiterin an. Die dachte, ich würde sie veralbern. Das Ende vom Lied: Wir haben um 09:00 Uhr gestartet. Es roch. Wir mussten ständig lüften. Und ich war am Ende des Tages krank.
- In einer anderen Kommune durfte ich den Mandatsträgern das fertige System vorführen. Die Verwaltung lud dazu in den Computerraum einer Schule ein. Um 18:00 Uhr sollte es losgehen – und kurz bevor ich die Veranstaltung eröffnete, schrie der erste: “Allris ist weg!”. Dann der zweite. Dann aktualisierte ich meinen Bildschirm. Aus Sicht der Anwender ist dann immer erst einmal die Software weg. Tatsächlich war das gesamte Internet weg. Und nicht etwa weil ein Bagger die Leitung erwischte, nein, in eben jener Schule wurde um 18:00 Uhr das Internet ausgeschalten. Der ITler schon auf dem Weg nach Hause. Eine Stunde trockenschwimmen, ehe die Daten wieder flossen.
- Als ich in Lübbenau im Termin war, kam gerade unerfreulicher Besuch der örtlichen Braunen. Sie meldeten einen Einwohnerantrag gegen den Brückenschieber an. Kennt ihr nicht? Ich bis dahin auch nicht. Eine kleine Hilfe, um Fahrräder über die Kanäle zu ziehen. Da kann das Abendland deshalb schon mal untergehen…
- In Cappeln – nicht zu verwechseln mit Kappeln – lernte ich einen neuen Berufszweig kennen: den Blühstreifenmanager. Also Personen, die sich um das Grün am Rande der Wege kümmern.
- Einen besonders mysteriösen Fall hatte ich bei einer süddeutschen Kommune. Dort hat ein Virus sämtliche abgelegte Dateien vernichtet. Dabei stellten sie fest, dass die tägliche Sicherung überhaupt nicht funktionierte. Und die letzten drei Vollbackups (die sie auch vorbildlich in einem Tresor lagerten) waren ebenso defekt. Die letzte tatsächliche Sicherung war also gut vier Monate alt. Je nach Architektur betreibt eine Kommune ein System intern und spiegelt die Daten auf einen externen Webserver. Und da lagen die Daten noch. Zum Glück. Aber nur die öffentlichen Daten. Die Mandatsträger bekamen dort die nichtöffentlichen Beschlussvorlagen erst in der Sitzung ausgehändigt – und am Ende wurden sie eingesammelt – Stichwort: Nord-Süd-Gefälle. Ich fragte neugierig, wie die Mandatsträger sich denn dann auf die Sitzung vorbereiten können, wenn sie erst in der Sitzung den Inhalt mitgeteilt bekommen. Die Antwort würde vermutlich verunsichern. Fazit: Den öffentlichen Teil konnte ich zurückspielen, der nichtöffentliche Teil musste von Papier wieder wieder hergestellt werden.
- Eine Kommunalverwaltung war für mich besonders anstrengend. Ein Projektteam, was sich im Laufe der Zeit nahezu komplett austauschte, eine Amtsleitung mit dem wohl größten Schreibtisch, fällte aber nicht zum entscheidenden Zeitpunkt die nötigen Entscheidungen und wir verschoben öfters Termine. Aber alle wollten an jedem Termin dabei sein und mitreden. Die Telkos und Termine waren Kommen und Gehen. Nach Feierabend der Vor-Ort-Schulung saß ich am Wahrzeichen des Ortes auf einer Bank und genoss den Ausblick. Gegenüber unterhielten sich zwei Frauen. Sie wollten Tickets für eine städtische Veranstaltung kaufen, doch dazu mussten sie zu den eingeschränkten Öffnungszeiten zur Tourismuszentrale. Online gab es nichts, noch nicht einmal telefonisch. Ich musste schmunzeln. Das bekamen sie mit. “Sie arbeiten doch nicht etwa für die Stadt?”, fragte die eine besorgt. Den Blick werde ich nie vergessen!
- Normalerweise sammelt man in einem Ratsinformationssystem die Beschlussvorlagen, legt dann eine Tagesordnung fest – und drückt auf einen Knopf und veröffentlicht diese Daten bzw. bekommt ein komplettes Paket für den Druck. Eine Kommune nutzte schon seit zwei Jahrzehnten ein solches System – und hatte bis zu meinem Besuch auch immer noch so wie früher gearbeitet. Ich wurde sehr ausführlich in die Welt des Papiersortierens eingeführt. Ich fragte, wie lange sie für eine Sitzung im Schnitt brauchen. “So wollen doch nicht weiter arbeiten?”. Und ehrlich: am Ende des Tages musste ich tief Luft holen. Immerhin: wir schafften gemeinsam den Sprung, heute werden auch da die Mandatsträger nur noch per E-Mail eingeladen. Und genau das war ja auch mein Job.
- Die Leute vom Sitzungsdienst dieser kleinen Kommune wollten Feierabend machen, doch ich wollte noch die Projektergebnisse dokumentieren. “Heute Abend ist eh noch ne Fraktionssitzung. Das könnte laut werden.”, warnten sie mich. Also saß ich noch gut eine Stunde im Besprechungsraum. Es wurde nicht laut. Und als ich fertig war und gehen wollte, stand ich vor einer verschlossenen Rathaus-Pforte. Einen Rettungsweg fand ich nicht. Ich sah niemanden im Rathaus. Was machen? Ich rief die Polizei an – in der Hoffnung, dass die Polizei zumindest vermitteln kann. Und Bingo. Wenig später hörte ich im Inneren Schritte. Tatsächlich gab es diese Fraktionssitzung, nur am anderen Ende des Rathauses – und irgendein Mitglied arbeitete bei der Polizei und wurde darüber informiert.
- Ich durfte nach Hoya. Einen Ort, den man vermutlich kaum jemand kennt. Ich suchte also einen Tag vor dem Termin nach dem Ort nach Informationen – und stellte fest, das mein Fahrrad aus Hoya stammt. Da konnte ich in den Terminen Karma-Punkte sammeln, als ich mein Fahrrad erwähnte.
- Über Sitzungsgeld schrieb ich ja bereits: Mandatsträger bekommen Aufwandsentschädigungen und Sitzungsgeld. Das Regelwerk und die Höhe legen (mit Ausnahme von NRW) die Kommunen selbst durch eine Satzung fest. Eine beliebte Regelung ist der Umgang mit Ämterkumulation, also wenn jemand bspw. stellvertretender Bürgermeister und Fraktionsvorsitzender ist. In einer wirklich kleinen Gemeinde in Niedersachsen hatte man – das ist selten – die Pauschalen für bestimmte Funktionen gekürzt. Aber es wurden auch die Regelungen entfernt, wonach bei Doppelfunktionen keine doppelte Entschädigung gezahlt wurde. Sprich: die nun reduzierten Beträge gab es nun on-top. Als ich diese Erkenntnis gewann, wollte ich in die Tischkante beißen. Schaute ich nun auf die geänderten Auszahlungsbeträge, so zeichnete sich nur bei einer Person eine Erhöhung ab – “Lassen sie mich raten, wer diese Änderung initiiert hat”, fragte ich in den Raum. Bingo.
- Die Verwaltung eines kleines Ortes in Niedersachsen lädt neben den offiziellen Gremien auch zum sogenannten Schützenfestkomitee ein. Und dieser Begriff fiel sehr häufig in den Terminen. Ich fragte trocken: “Sie mögen offensichtlich Trinkspiele.” Seit dieser Frage hoben drei Personen die Teetassen, wenn jemand im Raum Schützenfestkomitee sagte. Auch dann in der Schulung zog sich das als Insider durch. Das war lustig!
- A pro pos Teetassen. Bei Terminen im Norden und vor allem im Nordwesten steht selbstverständlich neben dem Kaffee auch eine Teekanne auf dem Tisch. In der Mitte Deutschlands gab es immerhin Wasserkocher und dann suchte man hektisch nach Teebeutel – und wenn man Pesch hat, bekommt man Wasser aus einer Kaffeekanne. Schwarztee schmeckt dann widerlich. Im Süden habe ich, ohne Witz, sogar schon den eigenen Wasserkocher ausgepackt.
- In Hugoldsdorf gibt es einen “Ausschuss für Gemeindeentwicklung, Bau und Verkehr, Umwelt- und Naturschutz, Landwirtschaft, Kultur, Sport, Gesundheit und Soziales Hugoldsdorf”, kurz Dorfausschuss für Alles. Ein Ausschussname mit 143 Zeichen in einem Dorf mit 133 Einwohnern.
So, das war’s mit einem kleinen Rundumblick zu den vergangenen drei Jahren. Nun geht es auf in neue Abenteuer!
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