ZDF und FRA-Report
Das ZDF hat heute einen Tweet abgesendet mit den Worten:
Jede 2. Frau in Europa wurde schon sexuell belästigt. #GewaltGegenFrauen. (gb)
Dazu gab es ein Video, in dem es um häusliche Gewalt ging. Also Thematisch zwar verwandt, aber dennoch andere Baustelle.
Ungünstig an einer Beschränkung auf 140 Zeichen ist der unzureichende Platz für Quellenangaben. Aber die gab es im Laufe der Debatte. Die Zahlen stammen aus Studie Violence against women: an EU-wide survey – und dann ab Seite 95.
Zunächst: Ich habe den Eindruck, dass in so einem Statement wie dem obigen viele Leute Informationen hinein interpretieren, die da nicht stehen. Allen voran die Einschränkung des potentieller Täterkreises nach Geschlecht. Aber das steht da nicht. Und die Studie weist es auch nicht aus (Anders als bei Stalking, das die Studie separat betrachtet und in der Studie nicht als Teilmenge der sexuellen Belästigung betrachtet wird)
Nun ist der Begriff sexuelle Belästigung ein dehnbarer Begriff. Die Studie verwendet den Begriff für diese Vorfälle:
- Unerwünschte Berührungen, Umarmungen oder Küsse?
- Zweideutige/sexuell anzügliche Kommentare oder Witze, durch die Sie sich angegriffen/beleidigt fühlten?
- Unangemessene Einladungen zu einem Rendezvous?
- Aufdringliche Fragen zu Ihrem Privatleben, durch die Sie sich angegriffen/beleidigt fühlten?
- Aufdringliche Kommentare zu Ihrem Aussehen, durch die Sie sich angegriffen/beleidigt fühlten?
- Unangemessenes Starren oder anzügliche Blicke, durch die Sie sich eingeschüchtert fühlten?
- Jemand schickte oder zeigte Ihnen sexuell eindeutige Bilder, Fotos oder Geschenke, durch die Sie sich angegriffen/beleidigt fühlten?
- Jemand hat sich unsittlich vor Ihnen entblößt?
- Jemand hat Sie gegen Ihren Willen genötigt, pornografisches Material anzusehen?
- Unerwünschte, sexuell eindeutige E-Mails oder SMS, die Sie angegriffen/beleidigt haben?
- Unangemessene Annäherungsversuche auf den Internetseiten sozialer Netzwerke wie Facebook oder in Internet-Chatrooms, die Sie angegriffen/beleidigt haben?
Zunächst ist festzuhalten, dass es um das subjektive Empfinden geht – und nicht um die objektive Tat. Die obige Aussage ist daraus nicht ableitbar, sie hätte lauten müssen: „Jede 2. Frau in Europa fühlte sich schon sexuell belästigt.”
Wenn ich all diese oben genannten Kriterien heranziehe, so fällt das Ergebnis weit positiver aus als ich es erwartet hätte (Womit ich nicht sagen möchte, dass das Ergebnis positiv ist). Aber ich würde bei diesen Fragen ein Ergebnis erwarten, in dem es nahezu keinem Mensch möglich ist, beginnend mit dem 15. Lebensjahr, nicht ein einziges Mal in eine dieser 11 Situationen konfrontiert worden zu sein. Vielleicht bin ich da zu pessimistisch.
Dann fragt die Studie nicht nur nach dem Ob, sondern auch nach dem Wieviel – aufgesplittet nach allen 11 Punkten. Respekt vor allen, die in so einer Umfrage beziffern können, dass sie [mehr als 6 mal|zwischen 2 und 5 mal|einmal|keinmal] in jedem dieser Kriterien betroffen waren (Und laut Fußnote der Tabelle 6.2 durften die einzelnen Kriterien auch mehrere Häufigkeiten haben, was aber in der Realität keinen Sinn ergibt)
Die Studie stellt die Ergebnisse nach den einzelnen europäischen Ländern – und das Gefälle ist enorm. Länder wie Schweden und Dänemark liegen bei 80%, dagegen Bulgarien bei 24% (Grafik 6.2) . Diese Unterschiede sollten Fragen aufkommen lassen, ob nicht die jeweilige Mentalität und Kultur Einfluss auf eben jenes subjektive Empfinden hat. Auf Seite 99 wird eine Erklärung in einer anderen Studie (Eurofound) herangezogen, aus der hervorgeht, dass mehr Respekt in den nördlichen Mitgliedsstaaten der EU festgestellt wurde als in den südlichen. Was sind dann diese Zahlen eigentlich noch wert?
Abschließend gibt es dann gute Ratschläge. So sollen z.B. Arbeitgeberorganisationen Frauen ermutigen sollen, Vorfälle zu melden oder die Mitgliedstaaten der EU ihre Gesetzgebung überprüfen oder ggf. anpassen. Und für solche Hinweise braucht’s auch diese Zahlen nicht.
In dem Zusammenhang ein schöner Artikel von stefanolix: Narrative und Statistiken
In Lobbyarbeit und PR werden oft plakative Zahlen verwendet. Diese Zahlen werden mit Informationsgrafiken oder Diagrammen visualisiert. Obwohl die Zahlen oft nicht stimmen oder falsch interpretiert sind, erzielen die Grafiken doch ihre Wirkung.
Wie kann man sich als vernünftiger Mensch dagegen immunisieren?
- Nach den Interessen fragen.
- Nach den Quellen fragen.
- Der Aussage methodisch auf den Grund gehen.
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