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Hamburger Verkehrsverbund - Eine Wissenschaft, die keine sein müßte

Darf ich sagen, daß der Hamburger Verkehrsverbund das bekloppteste und hirnkrankeste Tarifsystem überhaupt in Deutschland hat? Darf ich das? Ja, es ist leider so!

(Bitte jetzt keine Proteste aus der bayrischen Landeshauptstadt)

Seit heute weiß ich, daß ich in Hamburg schon mehr als einmal Strecken ohne gültigen Fahrausweis gefahren bin. Und das, obwohl ich mich eigentlich hinreichend informiert habe!

(Ehe die Frage aufkommt: Nein, ich bin nicht kontrolliert worden!)

Wie kam das?

Ich fuhr im Juni 2009 nach Hamburg und studierte im Vorfeld die Tarife. Die Seite der Hochbahn stellte visitenkartenähnlich das Unternehmen vor und hilft Reisenden absolut nicht. Man mag zum Vergleich die Seite der Berliner Verkehrsbetriebe überladen halten – aber man findet da alles, wonach man sucht! In Hamburg ist das eben nicht so – da informiert ausschließlich der Verkehrsverbund HVV (gelegentlich sagen Hamburger, sie fahren mit der HVV. Ich habe noch nie jemand gesehen, der mit der VBB, VRR, VRN, VVO etc. gefahren ist). Die Darstellung der Informationen hinterließ damals viele Lücken. Und wer sie gerade aufrufen will: die Seite ist seit Wochen schon chronisch überlastet. Ich habe keine Ahnung, was sie machen*.

Jedenfalls gab es eine Tarifübersicht, in der Begriffe verwendet wurden, die nicht erklärt waren. Möglicherweise im total Kleingedruckten. Ich suchte verzweifelt nach den Definitionen von Nahbereich und Kurzstrecke. In jeder anderen Stadt habe ich bisher eine verständliche Regelung gefunden. Bekannte Ureinwohner waren sogar der Meinung, der Nahbereich sei das Innere der historischen Ringlinie.

Die Anfrage beim Verkehrsverbund schien Klarheit zu bringen:

Zur Preisbemessung der Nahbereichskarte und Kurzstreckenkarte sind alle Linien innerhalb des Großbereichs des HVV und über die Großbereichsgrenze mittels Zahlgrenzen in Teilstrecken unterteilt. Die Nahbereichskarte gilt zum Befahren von zwei Teilstrecken, die Kurzstreckenkarte zum Befahren einer Teilstrecke (bis zur ersten Zahlgrenze). Ein Vorteil dieses Zahlgrenzsystems ist unter anderem, dass Stichfahrten und Umwegfahrten tariflich nicht voll mitgerechnet werden müssen. Auch sind die Zahlgrenzen auf die möglichst gute Erreichbarkeit von Einkaufs- und Versorgungszentren zugeschnitten. Ein Haltestellen-, Zeit- oder Kilometertarif wäre hier kaum flexibel.

Unter den Plänen im Internet gibt es eine Karte mit eingezeichneten Tarifgrenzen (siehe unten). Im allgemein üblichen Sprachgebrauch nennt man das Waben – und entsprechend der Erklärung bin ich davon ausgegangen, daß die Grenzen der Waben folglich auch eine tarifliche Bedeutung haben, also Zahlgrenzen sind.

Und nach besten Wissen und Gewissen kaufte ich dann meine Karten. Anfangs gab es an den Haltestellen Tabellen mit Preisstufen der jeweiligen Ziele. Dem Umständen entsprechend waren dies sehr praktisch. So kannte ich binnen 5 Sekunden den Preis in Erfahrung bringen. Aber was praktisch ist, wird in Hamburg wegrationalisiert. Papier zu teuer, kann man am Automaten auch in der dreifachen Zeit herausfinden. Mal habe ich vorher im Internet nachgeschaut. Oder eben die Wabentabelle zur Hand genommen – und damit ziehe ich den Bogen zur Ausgangssituation: Da notwendige Informationen fehlten, schiebe ich die Schuld dem HVV in die Schuhe!

Heute hat Sven Dietrich von Pop64 über die Hamburger Tarifstruktur ausgekotzt . Schon die Einleitung seines Beitrages klingt vielversprechend:

Es kann sein, dass ihr Kopf vor unlogischem Text explodiert. Zumindest werden sie nach Lektüre dieses Artikels ein Ziehen im Nacken verspüren. Möglich, in Extremfällen, ist das Verlangen sich in Blumenerde zu baden, mit Waschmittel die Ohren zu putzen, stundenlang an Stuhlbeinen zu kauen oder nackt, nur mit Honig eingeschmiert auf dem Balkon zu stehen und finnische Volksweisen in Spiegelschrift zu singen.
Die jetzt folgende Unlogik ist grenzenlos. Sie wurden gewarnt.

Jedenfalls zur Ausgangssituation:

Diese Zonen [..] sind nur für Zeitkarten relevant.

Für Einzelfahrscheine gibt es ein völlig davon losgekoppeltes Zahlgrenzensystem. Ich zitiere noch einmal:

Die Zahlgrenzen. Haben Sie auch noch nie gesehen. Die kennt niemand, insbesondere kennt sie niemand in Hamburg. Sie sind nirgendwo eingezeichnet. Ähnlich wie das Bernsteinzimmer oder Atlantis verstecken sich die Zahlgrenzen sehr gut vor der Öffentlichkeit.

Ein privater Anbieter, der u.a. Fahrplansoftware vertreibt, bietet eine Karte an, bei den Zahlgrenzen eingezeichnet sind. Leider nur für schienengebundenen Nahverkehr, aber immerhin eine Orientierung und Dokumentation des Schwachsinns:

Hier der inoffizielle Plan von nimmbus.de

Im längsten Fall kann man innerhalb dieser Zahlgrenzen sechs Stationen fahren, im kürzesten Fall erreicht man schon die Nachbarstation nicht mehr.

Ich zitiere einen weiteren Abschnitt aus einer E-Mail von 2009 vom HVV:

Im Bus informiert Sie der Busfahrer, welcher Preis für eine Fahrt zu zahlen ist.

Unter den Aspekten können einen die Busfahrer schon leid tun. Im letzten Jahr hatte ich den Fall, daß ein Busfahrer irrtümlich den Nahbereich kassierte, obwohl es laut Fahrplanauskunft eine Kurzstrecke hätte sein sollen. Nach einem E-Mail-Ping-Pong mit der HVV stellte sich heraus, daß zur Haltestelle mehrere Haltestellenpositionen gab, die in unterschiedlichen Zahlgrenzbereichen (nennt man das so?) liegen.

Schon abgeschalten?

Nur um den Schwachsinn noch einmal zu unterstreichen: Ein Inhaber einer Monatskarte befasst sich mit Zonen/Waben und legt diese fest. Verläßt er bei einer Fahrt diesen Bereich (was er ja relativ leicht herausfinden kann), ist er der Struktur der Zahlgrenzen ausgesetzt.

Die SPD-Abgeordnete Karin Timmermann fragte beim Senat nach, ob dieses System „für die Nutzerinnen und Nutzer wenig nachvollziehbar und transparent ist”. In der Antwort ist zu entnehmen, dass die Linien in Abschnitten von ungefähr 2,3 Kilometer Länge unterteilt sein sollen – und es dennoch möglich ist, mit der Kurzstrecke bis zu 5,3 Kilometer U-Bahn, bis zu 6 Kilometer S-Bahn und mit „der nur an Schultagen verkehrenden Linie 424 mit bis zu 30 Haltestellen und 15,4 km Entfernung zwischen Kälbersteert und Zollenspieker” zu fahren. Und genau weil diese Abweichungen möglich sind, ist es völlig undenkbar, die Kurzstrecke an die Anzahl der Haltestellen zu koppeln. Denn hier liegen zwei Haltestellen Regionalbahn (für die in Berlin keine Kurzstrecke gilt) bis zu 9,2 Kilometer entfernt, andererseits liegen zwei U-Bahn-Stationen auch mal nur 447 Meter entfernt (Hamburg Steinstraße könnte man auch in „Hauptbahnhof Süd-West” umbenennen). Und bei einer Kilometrisierung müsse „für jede Haltestelle im HVV einzeln definiert werden, welche Haltestellen mit der Nahbereichs- oder der Kurzstreckenkarte erreichbar wären” – also das, was heute auch schon gilt.

Es gibt glaube ich nichts Spannenderes als Tarifsysteme. Oder? (Wenn ganz Deutschland das Berliner System übernehmen würde, wäre es langweilig)

Auch jenseits der ganzen Waben, Ringe und Zahlgrenzen gibt es noch einige andere Kuriositäten im Hamburger Verkehrsverbund.

Nehmen wir die verschiedenen Bustypen. Es gibt normale Stadtbusse, klar. Daneben gibt es Metrobusse, die fahren normalerweise so häufig, daß sie eigentlich „Straßenbahn” heißen müßten (aber das ist in Hamburg ein sehr wundes Thema). Es gibt Schnellbusse, die halten nicht an jeder Haltestelle. Und nun gibt es Eilbusse, die halten auch nicht an jeder Haltestelle. An die Hamburger, die mitlesen: könnt ihr den Unterschied zwischen Schnell- und Eilbussen erklären? Für alle anderen, deren Kopf schon mit der Tischplatte kollidiert ist oder wirklich schon die finnische Volksweisen proben: der Schnellbus ist ein Bus erster Klasse und ist zuschlagspflichtig (also mehr Geld, nicht dem Busfahrer eins auf die Nase!). Ja, in Hamburg gibt es einen Zweiklassennahverkehr. Die Schnellbusse kann man am Aushang kaum von normalen Bussen unterscheiden – ganz im Gegensatz zur gummierten Möchte-Gern-Straßenbahn, die lila markiert sind oder die Zweite-Klasse-Schnellbusse mit vorgestellten E und grüner Färbung.

Hamburg hat auch keine Entwerter. Als ich suchend den Kioskbetreiber am Bahnsteig fragte, spöttete er nur zurück: „Kommst du aus dem Osten oder aus dem Ruhrgebiet?” – „Ich könnte von überall anders herkommen” (Die Aussage muß ich heute revidieren: Frankfurt hat auch keine Entwerter). Wißt ihr, liebe Hamburger, wie schön praktisch es in Berlin ist? Man sieht die Bahn einfahren (wenn sie denn wirklich kommt), rennt den Bahnsteig hoch. Man zückt eine auf Vorrat gekaufte Vierer-Karte aus der Hosentasche, Piep und rein in die Bahn.

Und wer in Hamburg nicht selber fahren möchte, sondern beispielsweise nur die schweren Koffer bis zum Zug tragen möchte, der braucht eine Bahnsteigkarte . Sie kostet 25ct für eine Stunde und ist für einen Bahnhof gültig. Über das Relikt längst vergessener Eisenbahnromantik hatte ich vor zwei Jahren berichtet

Sven Dietrich kam zu folgenden Urteil:

Aber ich verstehe nicht, wie man so einen komplexe Scheiß bauen kann. Kein Tourist versteht das, keine Oma, kein Gelegenheitsfahrer. Völliger Mist. Ich würde mich sehr freuen, wenn das alles komplett in den Müll fliegt und Eins zu Eins aus Berlin übernommen wird. Zwei Zonen. Fertig. Kein Zuschlag für unfreundliche und langsame pseudo Erste Klasse Busse, keine Zahlgrenzen, alles weg, weg damit. Braucht kein Mensch.
Danke.

Dem kann man sich ohne weiteres anschließen! Zumindest solange die Idee eines fahrscheinlosen Nahverkehrs noch nicht umgesetzt ist.

*Wer die Fahrplanauskunft braucht, sollte diese direkt aufrufen. Die funktioniert besser. Wer den oben gemeinten Plan mit Zonen sucht, ich habe eine dezentrale Sicherheitskopie angelegt:

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